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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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…«
    Â»Nein«, entfuhr es Murat. »Was soll denn da fehlen? Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Die Dreifaltigkeit, das ist alles.«
    Emma warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. »Es war nur so ein Gefühl«, sagte sie.
    Â»Ein Engel«, sagte er, jetzt wieder ruhiger. »Es könnte ein Engel sein, der dem Maler nicht gelungen war. Engel zu malen, ist sehr schwierig – ich meine, sie richtig zu ma len.« Er schwieg, schob nur wieder beide Hände hinten in die Jeans, wie um unauffällig zu überprüfen, ob er noch immer aus Fleisch und Blut bestand.
    Emma sah wieder in die Kuppel hinauf. Sie seufzte. »Jedenfalls, wenn man an einem Ort wie diesem ist, erscheint einem die Welt so – so einleuchtend. Aber dann geht man wieder da raus und fragt sich, ob alles wirklich … Ob es überhaupt einen Sinn hat.«
    Der Engel schüttelte den Kopf. »Glaubst du, Gott hätte am siebten Tag so eine Frage gestellt?«
    Emma antwortete nicht. Sie schaltete die Stablam pe aus.
    Nach einem kurzen Schweigen, in dem keiner den anderen ansah, fragte Murat: »Wenn ich deinem Vater aus der Klemme helfe, lässt du dann die Klage gegen mich fallen?«
    Â»Mal sehen.«
    Er nickte, schien aber offensichtlich nicht zufrieden zu sein. Er rollte die Schultern unter der Lederjacke. »Und was ist mit den Erdbeeren?«
    Emma zog ihre Armbanduhr zurate. »Dazu ist es inzwischen zu spät. Hast du eigentlich vor, heute wieder bei mir zu übernachten?«
    Â»Ich kann in ein Hotel gehen, wenn du willst. Aber vorher …«
    Â»Vorher?«, fragte sie.
    Â»Können wir die Kerzen anmachen?«
    Â»Welche Kerzen?«
    Â»Ich würde es gern einmal sehen«, sagte er. »So viele Gebete werden hier abgesandt, so viele Bitten und Wünsche und Hoffnungen. Ich möchte es einmal mit Kerzen sehen, wie eine Kirche wirkt, wenn sie voller Menschen ist, die an Gott glauben. Und die Musik. Ich würde gern die Orgel dazu spielen hören.«
    Â»Die Orgel habe ich hier selbst noch nicht gehört«, gestand Emma. »Aber mit den Kerzen, das müsste gehen.« Sie holte ein Streichholzbriefchen aus dem Amor Club hervor. Damit begann sie, die weißen Votivkerzen neben dem Beichtstuhl anzuzünden. Murat nahm eine der bereits brennenden Kerzen und half ihr, bis eine Reihe nach der anderen im warmen Licht der flackernden Flammen erstrahlte. Der Kerzenschein fiel in das dunkle Kirchenschiff, auf die Bänke, Säulen und Fenster. Er reichte sogar bis zur Orgelempore.
    Murat legte den Kopf in den Nacken. Schweigend sah er zu den Fenstern hoch, dann in die Kuppel hinauf.
    Â»Betest du?«, fragte Emma nach einer Weile.
    Â»Ja.«
    Â»Um was?«
    Â»Beten heißt zuhören«, sagte er. »Nicht verlangen.« Er trat einen Schritt zurück und geriet mit dem Arm an die brennenden Kerzen.
    Zuerst war es nur der Geruch, den Emma bemerkte, angekokeltes Leder, dann sah sie das Feuer seinen Ärmel hinaufzüngeln.
    Â»Achtung, Murat! Deine Jacke!« Sie lief zu ihm und schlug mit beiden Händen auf seinen Arm ein, aber die Flammen waren schneller. Murat sprang zurück und versuchte ebenfalls, sie auszuschlagen. Doch es gelang ihm auch nicht. Er wedelte mit den Armen um sich, dem brennenden und dem anderen.
    Und auf einmal, vor Emmas Augen, waren es keine Arme mehr, sondern Flügel. Große flatternde Engelsflügel, von denen einer in Flammen stand. Brennende Federn segelten durch die Luft. Gleich darauf, nur wenige Sekunden später, verwandelten sich die Flügel in Arme zurück. Die Federn glitten zu Boden, wo sie erloschen und verschwanden.
    Murat schwenkte die Jacke hin und her und klopfte die letzte Glut aus dem verschmorten Leder. Auch sein linker Hemdsärmel war angebrannt.
    Â»Hast du das gesehen!?« Emma starrte ihn mit offenem Mund an. »Du hattest plötzlich Flügel! Das waren Flügel eben!«
    Â»Ich weiß«, sagte er missmutig und rieb sich den linken Arm. »Ich bin ein Engel.«
    Â»Hast du dich verbrannt? Hast du Schmerzen?«
    Er schüttelte den Kopf und schlüpfte wieder in die Jacke, die noch ein wenig rauchte. »Ich bin müde.«
    Und so kam es, dass er auch am zweiten Weihnachts feiertag fast nur schlief und Emma auf Zehenspitzen durch ihre eigene Wohnung schlich, die jetzt nicht mehr nach nassen Federn, sondern nach verschmortem Leder roch.
    Gegen Abend öffnete sie die Tür

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