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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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Jahr, »Jingle Bells«, »O Tannenbaum«, » Christ ist geboren« und »Vom Himmel hoch«. Im Treppenhaus roch es nach Kerzenwachs, Fichtennadeln und Glühwein. Auf den Straßen glitzerte frisch gefallener Schnee, und in der Luft lag der Duft von Bratäpfeln, Zimtsternen, warmen Lebkuchen oder gerösteten Kastanien. Emma genoss den kurzen Fußmarsch zum Haus ihres Vaters, der schon mit der gefüllten Gans auf sie wartete.
    Nach der Gans mit Rotkohl und Knödeln tranken sie Kaffee im Wohnzimmer, wo ein Weihnachtsbaum mit brennenden Wachskerzen festliche Stimmung verbreitete.
    Â»Weißt du noch, wie wir vor vielen Jahren mal zusam men beim Arzt waren, weil du dich mit dem Spatel verletzt hattest, als du Rost von einer Eisenskulptur kratzen wolltest?«, fragte Emma. »Ich war vielleicht sechs oder sieben, und du hast sehr stark geblutet. Das war auch Weihnachten.«
    Â»Wo war deine Mutter denn?«, fragte ihr Vater.
    Â»Sie war bei Oma. Es war in dem Jahr, in dem Opa gestorben war. Weißt du nicht mehr?«
    Â»Doch«, sagte er, aber sie konnte sehen, dass es ihm nicht mehr gegenwärtig war. »War wohl kein schönes Weihnachten, oder?«
    Sie erinnerte sich an den Anblick der Wunde: wie rings um den tiefen Schnitt unter der rauen Haut feucht, hell und überraschend ganz frisches Gewebe zum Vorschein gekommen war. Offenbar lag das Leben unter der Haut. Man konnte innerlich noch jung sein, selbst wenn das Äußere schon alt und zerkratzt war wie eine von den zu oft gehörten Schallplatten, die es damals noch gegeben hatte.
    Die alten Leute fielen ihr wieder ein, die im Wartezimmer des Arztes gesessen hatten – all die abgespielten Menschen, die ihre Melodie als vergessenes Geheimnis in sich trugen, bis sie sich eines Tages vielleicht selbst vergaßen.
    Emma sagte: »Es war derselbe Arzt, der mir immer sein kaltes Stethoskop auf Brust und Rücken gedrückt und gesagt hat: ›Tief einatmen – und noch mal – ein – und aus!‹ Damals hab ich auf einmal gewusst, warum er das gemacht hat – nicht nur bei mir, sondern bei allen Patienten, selbst wenn sie nicht krank waren. Er wollte sie klingen hören.«
    Â»Und Mama war bei Oma?«, fragte ihr Vater jetzt.
    Â»Ja.«
    Er schwieg einen Moment. »Sie hat mir immer sehr gefehlt, wenn sie weg war«, sagte er dann. »Nicht sofort, aber spätestens am zweiten oder dritten Tag.« Er stand auf. »Komm, lass uns rausgehen, bevor es dunkel wird.«
    Draußen umfing sie kupferne Kälte, und gefrorener Schnee knirschte unter ihren Schritten. Schon am frühen Nachmittag entzündete die Stadt ihre Weihnachtsbeleuchtung. Über den Straßen brannten Lichterketten, hier und dort funkelte ein Weihnachtsbaum; alles erstrahlte in einem warmen Glanz, der Emma neu und ungewohnt erschien.
    Â»Sie ist schon so lange nicht mehr bei uns«, griff ihr Vater das Gespräch wieder auf. »Ich vermisse sie schrecklich.«
    Â»Ich auch«, sagte Emma.
    Â»Acht Jahre«, sagte er. »Wenn ich dich nicht gehabt hätte – ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.«
    Emma schluckte, ihre Augen wurden feucht. »Ich dachte …« Sie blinzelte das Glitzern an den Wimpern weg, bevor es gefrieren konnte. »Ich dachte, ich hätte dir die ganze Zeit bloß Kummer bereitet.«
    Â»Hast du ja auch.« Er schmunzelte. »Aber dieser Kum mer war das Gewürz, ohne das alles andere fad geschmeckt hätte.«
    Sie hakte sich bei ihm ein und ging an seinem Arm wie früher als Kind an seiner Hand.
    Â»Was ist eigentlich aus diesem jungen Mann geworden?«, fragte er. »Diesem Maler. Wie hieß er noch? Max, Mark …«
    Â»Spurlos verschwunden«, unterbrach Emma ihn.
    Â»Schade, war doch eigentlich ganz sympathisch. Und? Gibt es jemand Neuen in deinem Leben?«
    Plötzlich wurde sie schwach, und alles, was sich seit dem gestrigen Abend zugetragen hatte, sprudelte aus ihr heraus. Sie hörte sich selbst reden und dachte: Verrückt. Das hört sich absolut verrückt an. Er muss denken, ich habe einen Knall.
    Als sie fertig war, sagte ihr Vater lange nichts. Mit ge senktem Kopf stapfte er neben ihr durch den Schnee. Schließlich blieb er stehen und sah sie an. »Das ist ziem lich ungewöhnlich, oder?«
    Â»Ich glaube schon.«
    Â»Und – ist er ein echter Engel, was meinst du?« Er schien keine Antwort zu erwarten,

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