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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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denn er ging wei ter, bis er noch mal stehen blieb und sagte: »Interessant. Ein Engel zu Weihnachten, ausgerechnet bei meiner Tochter. Das ist sehr interessant. Darüber muss ich nachdenken.«

    A ls Emma gegen Abend in ihre Wohnung zurückkehrte, roch es dort nicht nach Weihnachten, sondern durchdringend nach nassem Gefieder. Bei ihrem Aufbruch hatten Murat und der Monsignore in der Küche gesessen und die Köpfe zusammengesteckt, aber nun trat sie in einen stillen, dunklen Gang. »Murat?«, rief sie leise. »Engel?« Sie erhielt keine Antwort. Sie sah in der Küche nach, dann im Wohnzimmer. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Sie öffnete die Tür ganz – und da lag er und schlief. Tief wie ein Toter, dachte sie. Der Weg vom Himmel auf die Erde musste ihn völlig ausgelaugt haben. Kaum hatte Murat ausgeschlafen, stieg er aufs Dach, wo er bei den Tauben auf dem First kauerte, bis die Kälte ihm zu viel wurde. Danach saß er in der Küche, geschmolzener Schnee tropfte aus seinem Haar, und er roch nach feuchten Federn, während sich der Schein des Adventskranzes auf seinem Gesicht spiegelte. Er hatte weder Hunger noch Durst. Er wollte ihr auch nicht erzählen, was er mit dem Monsig nore ausgeheckt hatte. »Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich weißt«, sagte er. »Schließlich stehen wir auf verschiedenen Seiten.«
    Â»Wollen wir über etwas anderes reden?«, fragte sie.
    Â»Worüber?«
    Ãœber den Himmel, dachte sie. Über Gott. Über alte Filme. Am Morgen hatte Sera angerufen und sie für den Abend zum Fernsehen eingeladen, die ganzen Schwarz-Weiß- Filme aus den Vierzigerjahren des letzten Jahrhun derts, einschließlich Bing Crosby, der »White Christmas« sang. Aber Emma wollte ihr nicht sofort und bedin gungslos verzeihen, zumal Sera sagte, Julian würde auch da sein.
    Â»Ãœber Erdbeeren«, sagte sie. »Ich hätte Lust, einen Kuchen zu backen, einen Erdbeerkuchen. Magst du Erdbeeren?«
    Â»Ich habe noch nie Erdbeeren gegessen«, bekannte er.
    Â»Würdest du gern welche probieren? Mit Schlag sahne?«
    Er zuckte mit den Schultern, doch sie konnte sehen, dass sie sein Interesse erregt hatte. Sie beschloss, zum Hauptbahnhof zu fahren, wo es einen Obstladen gab, der auch am Sonntag geöffnet war. Vielleicht fand sie Erdbeeren aus Israel, dem Gelobten Land, um ihrem Besucher ein Vergnügen zu bieten, das er aus dem Himmel nicht zu kennen schien. »Kommst du mit zum Bahnhof?«
    Â»Ich würde lieber in die Kirche gehen«, sagte er.
    Natürlich, dachte sie, wie dumm von mir. Wo sollte ein Engel an Weihnachten auch sonst hinwollen? »In eine bestimmte Kirche?«
    Â»Die von gestern, Sankt Michael, wo ich gelandet bin«, sagte er. »In der du vom Gerüst gefallen bist.«
    Â»Ich bin nicht vom Gerüst gefallen. Das Gerüst ist un ter mir zusammengebrochen. Das solltest du eigentlich wissen.«

    E ine Stunde später stand Emma mit Murat im dunklen Mittelschiff der Kirche und blickte in die Kuppel hinauf zum Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit, an dem sie in den Wochen vor ihrem Unfall gearbeitet hatte. Das Mondlicht fiel auf die übermalte Stelle, unter der sie das eigentliche Geheimnis des Gemäldes vermutete.
    Das eingestürzte Gerüst war beiseitegeräumt worden, die Stangen, Bretter und Scharniere stapelten sich im Seitenschiff. Sie hatte gehofft, es wäre vielleicht inzwischen wieder aufgebaut worden, sodass sie in die Kuppel steigen konnte, um Murat die Stelle zu zeigen und ihn um seine Meinung zu bitten. Diese Stelle war nämlich eins der Teilchen, aus denen ihr Leben bestand; sie hatte sie gesehen, als sie dem Tod nahe gewesen war.
    Â»Viel kann man ja nicht erkennen«, sagte der Engel.
    Emma holte eine starke Stablampe aus der Sakristei und schaltete sie ein. Der helle Lichtkegel geisterte durch das Kirchenschiff, huschte über Säulen und Heiligenstatuen und tastete sich endlich in die gewölbte Kuppel, wo die frisch restaurierten Farben der Trinità aufleuchteten. Sie hörte die Tauben gurren, konnte sie aber nicht sehen. »Jetzt besser?«, fragte sie.
    Er nickte.
    Â»Ich glaube, da fehlt etwas«, erklärte sie. »Unter dem Vater und dem Sohn. Ich weiß nicht, was. Aber es sieht so aus, als wäre da etwas übermalt worden, was ein früherer Künstler ursprünglich dargestellt hat. Ich wollte es freilegen und

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