Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
jetzt habe ich das ganze Zeug geerbt und weià nicht, was ich damit anfangen soll. Unter uns: Bargeld wäre mir lie ber gewesen, ich habe nämlich ziemliche Schulden. Der Ferrari da drauÃen â reine Angeberei, gehört längst der Bank â¦Â«
Salásy nickte teilnahmsvoll. »Oh, das kenne ich, glauben Sie mir.« Er senkte die Lider, um das gierige Funkeln in den Augen zu verbergen. »Mir kommt da gerade ein Gedanke. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Zufällig bin ich nämlich Experte für Kunstobjekte und Antiquitäten. In Fachkreisen ist mein Name durchaus nicht unbekannt. KuK Art et Antiquités . Wenn Sie wollen â ich wäre bereit, einen Blick auf Ihre Sammlung zu werfen. Zwischen den Feiertagen ist im Geschäft nicht so viel los. Ich könnte sie taxieren und unter Umständen sogar das ein oder andere Stück in Kommission nehmen, um es für Sie zu verkaufen.«
Murat strahlte. »Wirklich? Damit würden Sie mir einen Riesengefallen tun.«
In diesem Moment erschien die Kellnerin an ihrem Tisch. »Haben die Herren schon gewählt?«
»Champagner!«, riefen beide wie aus einem Munde.
D ie Madonna war einfach wunderschön.
Emma stand vor der schlanken Holzstatue, die auf ih rer Mondsichel fast so groà war wie sie selbst ohne Schuhe, und hatte das Gefühl, dem Himmel nahe zu sein. Sie betrachtete den stillen Ernst im Gesicht der Gottesmutter, das dem Jesuskind auf ihrem rechten Arm zugewandt war. Dann berührte Emma den Heiligenschein aus vergoldeten Sternen und dachte: Das kann unmöglich eine Fälschung sein . Sie spürte es ganz tief in sich.
Aber warum war der Kunde, der ihrem Vater die Marienfigur zur Versteigerung gebracht hatte, nur über ein Postfach zu erreichen? Keine E-Mail-Adresse, keine Tele fonnummer? Wenn wirklich Salásy dahintersteckte, was war sein Plan?
Das Lager war immer schon Emmas Lieblingsplatz im Auktionshaus ihres Vaters gewesen: ein einziges, prachtvolles, staubiges Durcheinander aus Bildern, Skulpturen und Objekten, die dicht gedrängt in Regalen standen, auf Kisten lagen oder an den Wänden hingen, nur beleuchtet vom Schein einer armseligen Glühbirne ohne Schirm, die an der Decke hing.
Da gab es einen leicht angestoÃenen Ludwig-XVI- Tisch, auf dem ein zusammengerollter, ausgeblichener Savonnerie-Teppich lag. Zwei schwarze Art-déco-Lackschränkchen voll mit orientalischem Porzellan standen neben einer Jadestatue der Göttin Kuan-Jin aus Peking. Auf den Schränken fand sich ein Paar blattgoldverzierter Holzkerzenständer, daneben lehnten gerahmte erotische Zeichnungen von Klimt, Beardsley und Segantini. Eine verschnürte Ledermappe enthielt mehrere Aquarelle von Marie Laurencin. In den Regalen stapelten sich Erstausgaben von Charles Dickens, André Gide, den Gedichten von Keats, den Sonetten Shakespeares und den Märchen der Gebrüder Grimm. Ein spanischer Refektoriumstisch aus dem siebzehnten Jahrhundert beherbergte Radierungen und Zeichnungen von Schmidt-Rottluff und anderen Mitgliedern der Brücke, auÃerdem die meisterhafte Nach ahmung eines Stichs von Piranesi.
Hier waren all diese Schätze, dachte Emma traurig, und niemand wollte sie haben, niemand konnte sie sich mehr leisten. Keiner erkannte ihren Wert, und ihr Vater weigerte sich, sie, wie er sagte, für einen Appel und ein Ei wegzugeben. Die Menschen interessierten sich mehr für Tand, Nippes oder Fälschungen, wie Salásy, der Be trüger, sie in seinem Laden ein paar StraÃen weiter anbot.
Und dann das: Verschämt in einer Ecke wölbte sich die Ming-Vase, bei deren Anblick Emma ein Stich ins Herz fuhr. Noch immer sah sie das entsetzte Gesicht ihres Vaters vor sich, als er ihr die Vase aus den Händen gerissen und den Schaden begutachtet hatte.
Armer Papa, dachte sie. Wäre ihr Vater ein Buch gewesen, hätte man ihn aufschlagen und seine Seele zwischen den Seiten finden können wie eine gepresste Blume. Oder eine Melodie, deren letzte Takte vielleicht nie ausklingen würden, wenn man ihm seinen Laden wegnahm. Ein abruptes Ende, an dem auch ihr verdammtes Pech schuld wäre.
Emma kehrte Vase und Madonna den Rücken und stieg auf eine Leiter, um auf dem obersten Regalbrett nach einem Bild zu suchen, das ihr nicht aus dem Kopf ging. Sie wusste, es musste hier irgendwo sein: ein Giotto, der einen trauernden Engel zeigt. Natürlich eine Kopie. Konnte es sein, dass
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