Der Alchimist
an, und der Wind wehte gelegentlich den süßlichen Geruch von Blut herüber. Es mußte in der Nähe eine Schlacht stattgefunden haben, und der Wind erinnerte den Jüngling an die Sprache der Zeichen, die ihm stets zeigen konnten, was seine Augen nicht zu sehen vermochten. Am siebten Reisetag entschloß sich der Alchimist, früher als üblich zu rasten. Er nahm die Feldflasche und bot dem Jüngling Wasser an, und der Falke flog auf Beutefang. »Nun bist du beinahe schon am Ziel deiner Reise«, sagte der Alchimist. »Meinen Glückwunsch, daß du deinem persönlichen Lebensweg gefolgt bist.« »Und du führst mich, ohne etwas zu sagen. Ich hatte gehofft, du würdest mich lehren, was du weißt. Vor einiger Zeit war ich mit einem Mann in der Wüste, der Bücher über Alchimie besaß. Aber sie lehrte mich nichts.« »Es gibt nur eine Möglichkeit zu lernen«, entgegnete der Alchimist. »Und das ist durch Handeln. Alles, was du wissen mußt, hat dich die Reise gelehrt. Jedoch eines fehlt noch.« Der Jüngling wollte wissen, was es war, aber der Alchimist schaute wie gebannt auf den Horizont und erwartete die Rückkehr des Falken. »Warum nennt man dich Alchimist?« »Weil ich einer bin.« »Und was stimmte bei den anderen Alchimisten nicht, die Metall in Gold verwandeln wollten und es nicht schafften?« »Sie suchten nur nach Gold«, antwortete der Gefährte. »Sie suchten den Schatz am Ende ihres persönlichen Lebensplanes, ohne jedoch den eigentlichen Lebensplan leben zu wollen.« »Was fehlt mir noch an Wissen?« beharrte der Jüngling. Aber der Alchimist blickte noch immer zum Horizont hinüber. Nach einiger Zeit kehrte der Falke mit einer Beute zurück. Sie gruben ein Loch und machten das Feuer darin, damit man das Licht der Flammen aus der Ferne nicht sehen konnte. »Ich bin ein Alchimist, weil ich einer bin«, sagte er, während er die Mahlzeit zubereitete. »Ich erlernte diese Wissenschaft von meinen Vorvätern, die sie wiederum von ihren Vorvätern lernten, und so weiter bis zur Entstehung der Welt. Zu jener Zeit konnte die ganze Weisheit des Großen Werkes noch auf einem einfachen Smaragd geschrieben stehen. Aber die Menschen schenkten den einfachen Dingen keine Beachtung und fingen an, Abhandlungen, Erläuterungen und philosophische Studien zu verfassen. Sie fingen auch an zu behaupten, daß sie den Weg besser kannten als die anderen. Aber die Smaragdtafel ist bis heute wirksam geblieben.« »Was stand denn darauf?« wollte der Jüngling wissen. Der Alchimist begann in den Sand zu malen und brauchte nicht länger als fünf Minuten dazu. Während er malte, dachte der Jüngling an den alten König und den Marktplatz, wo sie sich eines Tages begegnet waren; es erschien ihm, als lägen unendlich viele Jahre dazwischen. »Das stand auf der smaragdenen Tafel«, sagte der Alchimist, als er fertig war.
Der Jüngling näherte sich, um die Worte zu lesen, die im Sand aufgezeichnet waren.
»Das ist ja eine Geheimsprache«, stellte er enttäuscht fest. »Es ähnelt den Büchern des Engländers.« »Nein«, entgegnete der Alchimist. »Es ist wie der Flug der Sperber; es soll nicht nur vom Verstand erfaßt werden. Die Smaragdtafel stellt einen direkten Zugang zur Weltenseele dar. Die Weisen hatten erkannt, daß diese Welt lediglich ein Abbild des Paradieses ist. Die bloße Existenz dieser Welt ist die Garantie dafür, daß es eine vollkommenere Welt gibt. Gott erschuf diese Welt, damit der Mensch durch das Stoffliche seine geistigen Gesetze erkennen lernt. Das ist es, was ich unter Handeln verstehe.« »Muß ich überhaupt die Smaragdtafel verstehen?« fragte der Jüngling. »Vielleicht, wenn du in einem Alchimie-Labor tätig wärst, dann wäre nun der Moment gekommen, um die beste Möglichkeit ausfindig zu machen, die Smaragdtafel zu entziffern. Aber du befindest dich in der Wüste. Diese dient ebensogut dazu, die Welt zu verstehen, wie jedes andere Mittel auf dieser Erde. Du brauchst die Wüste nicht einmal ganz zu verstehen: Es genügt, wenn du dich in die Betrachtung eines einzigen Sandkorns versenkst, und du wirst darin alle Herrlichkeiten der Schöpfung wiederfinden.« »Was kann ich tun, um in die Wüste einzutauchen?« »Höre auf die Stimme deines Herzens. Es kennt alle Dinge, denn es kommt aus der Weltenseele und wird eines Tages dorthin zurückkehren.«
26
Sie zogen abermals zwei Tage weiter, ohne sich zu unterhalten. Der Alchimist wurde noch vorsichtiger, weil sie sich der Gegend mit den heftigsten Kämpfen
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