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Der Algebraist

Der Algebraist

Titel: Der Algebraist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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aus einer ganz einfachen Maxime: Betrüge dich
niemals selbst; täusche immer nur andere.
    So viele Vorteile! So viele verschiedene Dinge, mit denen man ihm
das Vorwärtskommen erleichterte. Wäre jeder, dem er
begegnete, jeder Rivale, jeder Gegner in dieser Hinsicht genau wie er
gewesen, der Aufstieg zur Macht wäre ihm sehr viel schwerer
gefallen. Vielleicht hätte er ihn auch gar nicht geschafft, denn
ohne diese Vorteile hing fast alles nur vom Glück ab, und das
hätte womöglich nicht gereicht.
    Früher hatte er sich öfter gefragt, wie viele von seinen
alten Chefs, den Ordensoberen der Cessoria, tatsächlich an die
›Wahrheit‹ glaubten. Er vermutete stark, je weiter man nach
oben ginge, desto größer würde der Anteil derer, die
an gar nichts glaubten und dem Orden nur angehörten, um am Glanz
und an der Herrlichkeit der Macht teilzuhaben und über andere zu
herrschen.
    Heute machte er sich darüber kaum noch Gedanken. Er setzte
einfach voraus, dass in solchen Positionen nur radikale Zyniker und
Egoisten saßen. Hätte er in den obersten Rängen der
Hierarchie einen wahren Gläubigen gefunden, er wäre nicht
nur überrascht, sondern sogar ein wenig empört gewesen. Als
hätte der Betreffende die eigenen Leute verraten und fühlte
sich nun – welch groteske Idee! – seinen weniger
verblendeten Standesgenossen womöglich noch überlegen.
    »Und du glaubst also wirklich daran? Ganz
aufrichtig?«
    »Aber gewiss doch! Es ist der rationale Glaube. Er wird von
schlichter Logik bestimmt. Man kann sich ihm nicht entziehen, und das
wissen Sie besser als ich. Ich glaube, Sie wollen mich nur
necken.« Das Mädchen wandte den Blick ab und lächelte,
kokett, schüchtern, vielleicht etwas beunruhigt. Es wäre
sogar möglich, dass sie es wagte, beleidigt zu sein.
    Er fasste mit einer Hand in ihr Haar und zog ihr Gesicht –
eine schwarz-goldene Silhouette vor einer Hand voll ferner Sterne
– zu sich heran. »Mein liebes Kind, ich habe in meinem
ganzen Leben noch nie jemanden geneckt, das kannst du mir
glauben.«
    Darauf wusste das Mädchen nichts zu erwidern. Sie sah sich
um, betrachtete vielleicht die matten Sterne hinter dem Glas,
vielleicht das schneeweiße, flauschige Bettzeug für
Niedrigschwerkraft, vielleicht die vielen Bildschirme um das kleine
Liebesnest, auf denen in allen schockierenden Einzelheiten die
denkbar phantasievollsten Geschlechtsakte zu sehen waren. Vielleicht
ging ihr Blick auch zu ihren beiden Gefährtinnen, die sich
zusammengerollt hatten und schliefen.
    »Gut«, sagte sie, »Sie wollten mich also nicht
necken, ich will Ihnen nichts unterstellen. Vielleicht machen Sie
sich nur über mich lustig, weil Sie so viel klüger und
gebildeter sind als ich.«
    Das, dachte der Archimandrit, träfe es
vielleicht eher. Aber er hatte immer noch keine Gewissheit. Trug
dieses junge Ding wirklich noch immer die ›Wahrheit‹ im
Herzen, obwohl er den ganzen Unsinn schon vor so vielen
Normalgenerationen in aller Form abgeschafft hatte?
    Eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle; solange niemand
anfing, auf der Basis seiner Religion eine Verschwörung gegen
ihn anzuzetteln, kümmerte es ihn herzlich wenig, was andere
wirklich dachten. Gehorcht mir, fürchtet mich. Hasst mich, wenn
ihr wollt. Aber tut niemals so, als würdet ihr mich lieben. Mehr
verlangte er nicht. Der Glaube war nur ein weiteres Druckmittel wie
das Gefühl, wie die Empathie, wie die Liebe (oder was die Leute
dafür hielten, was sie als Liebe bezeichneten, jenen kleinen,
eingebildeten, vielleicht auch erlogenen Bereich abseits der Wollust.
Wollust war aufrichtig. Und natürlich ebenfalls ein
Druckmittel).
    Dennoch wollte er es wissen. Ein weniger zivilisierter Mann in
seiner Position hätte vielleicht erwogen, das Mädchen
foltern zu lassen, um ihm die Wahrheit zu entreißen, aber wenn
man anfing, wegen solcher Fragen zu foltern, sagten einem die Leute
bald einfach das, wovon sie glaubten, man wolle es hören –
nur damit der Schmerz aufhörte. Das hatte er schon sehr
früh begriffen. Es gab eine bessere Möglichkeit.
    Er griff nach der Fernbedienung und beschleunigte die Rotation der
Kapsel, bis wieder die Illusion von Schwerkraft entstand. »Geh
vor dem Fenster auf alle viere«, befahl er dem Mädchen.
»Es ist wieder so weit.«
    »Natürlich, ganz wie Sie wollen.« Das Mädchen
nahm rasch die gewünschte Position ein und kauerte vor dem
heranrasenden Sternenfeld, das scheinbar nicht von der Stelle wich,
obwohl die Kapsel sich drehte. Die

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