Der Algebraist
sehr ungewöhnliche Erfahrung, das
klare, leicht schräge Bild, das die Sinne des Pfeilschiffs
lieferten, war dem Bild überlagert, das ihm sein eigener
Körper zeigte.) Er konnte sich nicht umbringen. Er musste
weitermachen, musste tun, was er konnte, musste seinen Tribut
entrichten, sich um Wiedergutmachung bemühen, musste zusehen, ob
er diese Welt nicht um ein klein wenig besser zurücklassen
konnte, als er sie vorgefunden hatte, musste Gutes tun, soweit es in
seinen Kräften stand.
Er wartete darauf, dass die ›Wahrheit‹ eingriffe, dass
die Simulation an ihr Ende käme, und als das nicht geschah
– er hatte es gewusst, aber doch beinahe darauf gehofft –,
da stiegen Bitterkeit, Resignation und eine grimmige Belustigung in
ihm hoch.
Er befahl dem Gasschiffchen, sich wieder gerade zu richten und ihn
einzuschließen. Gehorsam kippte es nach hinten, das Kanzeldach
klappte zu. Die weichen Polster des Schockgels schmiegten sich an
ihn, darin enthaltene Salbenfäden legten sich auf seine
Fleischwunden und kühlten seine tränenden Augen. Er
glaubte, in den Aktionen der Maschine eine gewisse Erleichterung zu
spüren, aber er wusste, dass das ein Irrtum war. Die
Erleichterung kam von ihm selbst.
»Aha, die Meinungen gehen auseinander, wie sich das so
gehört. So war es immer, so wird es immer sein. Könnte es
sein, dass wir gezüchtet wurden? Wer weiß? Vielleicht
waren wir Haustiere. Vielleicht auch zur Beute bestimmt. Oder wir
waren nur zur Zierde da, als Hofnarren oder Prügelwesen. Auch
galaxisverändernde Saatmaschinen könnten wir gewesen sein,
die aus dem Ruder liefen. (Das sind nur einige von unseren Mythen.)
Vielleicht sind unsere Schöpfer verschwunden, vielleicht haben
wir sie gestürzt (auch das ein Mythos – Prahlerei, zu viel
der Ehre –, ich glaube nicht daran). Waren sie am Ende gar
Protoplasmawesen? Ein sehr verbreiteter Tropus, wie ich erwähnen
möchte, der sich hartnäckig hält. Warum Plasmawesen?
Warum sollten Wesen, die im Fluss leben – ob er nun von Sternen
ausgeht oder von Planeten – vor so langer Zeit den Wunsch
verspürt haben, etwas wie uns zu erschaffen? Wir haben keine
Ahnung, aber das Gerücht will nicht verstummen. Wir wissen nur,
dass wir hier sind, und das seit mehr als zehn Milliarden Jahren. Wir
kommen und gehen, wir leben unser Leben in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten, im Allgemeinen immer langsamer, je älter wir
werden, was ihr in unseren Mauern selbst beobachten könnt, aber
davon abgesehen, wozu sind wir hier? Warum existieren wir? Was ist
der Sinn unseres Daseins? Wir haben keine Ahnung. Du wirst mir
verzeihen; diese Fragen scheinen an Bedeutung zu gewinnen, wenn sie
an uns, die Dweller, gestellt werden, denn wir sind offenbar –
nun, wenn es schon nicht unsere Bestimmung ist, so haben wir
doch zumindest die Tendenz, unslange zu halten.
Bei aller Hochachtung, versteh mich richtig, aber wenn man genau
die gleichen Fragen an die ›Schnellen‹ stellt, die Menschen
oder gar – ich bitte die Gleichsetzung der Arten zu
entschuldigen, lieber Colonel – die Oerileithe, dann haben sie
nicht das gleiche Gewicht, denn ihr habt nicht unsere Geschichte,
unsere Herkunft, unsere schiere, verdammte, völlig
unbegründete und allen Göttern trotzende Langlebigkeit. Wer
weiß? Vielleicht kommt das eines Tages noch! Das Universum ist
immerhin noch jung, auch wenn wir in unserer grenzenlosen Egozentrik
wie unsere Vorfahren überzeugt sind, die Krone der
Schöpfung zu sein. Vielleicht werden unsere noch unbekannten
Erben dereinst in die Letzte Chronik schreiben müssen, die
Dweller hätten in der ersten stürmischen Frühphase des
Universums nur ein Dutzend Milliarden Jahre überdauert, bevor
sie in der Versenkung verschwanden. Menschen und Oerileithe dagegen,
Wesen von geradezu sprichwörtlicher Hartnäckigkeit,
beherzte Lebensverlängerer, hätten Zivilisationen von
mustergültiger Beständigkeit gegründet, die sich
jeweils mindestens zwei- oder gar dreihundert Milliarden Jahre halten
konnten. Dann könnte man die gleichen Fragen an euch
stellen: Warum? Wozu? Zu welchem Zweck? Und – wer weiß?
– wenn es dazu kommt, findet ihr vielleicht sogar eine Antwort,
mehr noch, eine Antwort, die sinnvoll ist.
Doch im Moment sind wir die Einzigen, die sich mit solch
schwierigen Problemen auseinander setzen müssen. Alle anderen
kommen und gehen, und das ist der Lauf der Welt, es wird nicht anders
erwartet, es ist vorgegeben: Arten tauchen auf, entwickeln sich,
gelangen zur
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