Der Algebraist
dahin. Die Polarkreise, wo die Sonne mitten im Sommer niemals
unter- oder in den Tiefen des Winters niemals aufging, hatten einen
Durchmesser von weniger als tausend Kilometern. Offiziell war der
Planet nach menschlichen Normen als heiß bis
gemäßigt eingestuft, seine Winter waren länger, aber
nicht so hart wie auf der Erde und beschränkten sich in ihrer
strengsten Form auf kleinere Gebiete als auf dem Heimatplaneten der
Menschheit. Aber der Hosennir-Wasserfall lag weit im Norden und hoch
oben in den Bergen des Arktisschilds, so dass der Doaroe bisweilen
über ganze Standardjahre bis auf den Grund gefroren war.
Man sprach von einer Klausur, weil die Anlage der
Justitiarität gehörte, aber für Saluus war es einfach
ein Hotel mit Tagungszentrum. Die Aussicht war jedenfalls grandios,
vorausgesetzt, es gab genügend Tageslicht, um sie auch richtig
zu genießen, und die Landschaft hatte, wie Saluus gerne zugab,
einen gewissen herben Reiz.
Dennoch war er nicht gern hier. Er fühlte sich nicht wohl,
wenn er einen Ort nicht jederzeit verlassen konnte – notfalls zu
Fuß, wenn es zum Schlimmsten kam. Wer hier wegwollte, brauchte
ein Lufttaxi oder musste mit dem Aufzug im Innern des gefrorenen
Wasserfalls hinauf zum Landeplatz auf dem Eis des gefrorenen Flusses
oder hinunter zur Vakuumbahnstation am Ufer des gefrorenen Sees am
Fuß der Klippe fahren. Als er hörte, wo die Konferenz
über die Dweller-Abordnung stattfinden sollte – man hatte
sie aus Sicherheitsgründen sehr kurzfristig anberaumt –
hatte er eigens ein Parasegel eingepackt, nur um im Notfall ein
Hintertürchen zu haben.
Dabei war er ziemlich sicher, dass ein solcher Notfall nicht
eintreten würde – und wenn doch, dann wäre die
Katastrophe so groß und käme so plötzlich, dass eine
Flucht nicht mehr möglich wäre –, aber mit dem
Parasegel neben dem Balkonfenster seines Schlafzimmers fühlte er
sich wohler und sicherer. Die anderen prominenten Konferenzteilnehmer
hatten zumeist Suiten tief im Innern des Wasserfalls gewählt,
möglichst weit weg von allen Gefahren von außen, aber
Saluus hatte auf einer Außensuite mit Aussicht bestanden, um
einen Fluchtweg zu haben. Er war seit Jahrzehnten nicht mehr mit dem
Parasegel geflogen, aber er wollte lieber Kopf und Kragen riskieren,
als sich wimmernd in einer Ecke seiner Suite zusammenzukauern und auf
den Tod zu warten.
Manchmal fragte er sich, wieso ihn dieser Wunsch nach einer
Fluchtmöglichkeit so hartnäckig verfolgte. Er war weder
damit zur Welt gekommen, noch konnte er ein traumatisches
Kindheitserlebnis dafür verantwortlich machen. Der Gedanke hatte
sich im Laufe seines Erwachsenenlebens allmählich
eingeschlichen. So etwas gab es manchmal. Er hatte sich bisher auch
nicht die Zeit genommen, eingehender darüber nachzudenken.
Wichtig war vermutlich nur, dachte Saluus, dass man in dieser
Hotelklausur in der gegenwärtigen Lage nicht mehr gefährdet
war als irgendwo sonst. Die Angriffe auf das Ulubis-System dauerten
an, sie hatten nie für längere Zeit nachgelassen, aber auch
nie einen ausgesprochenen Höhepunkt erreicht. Viele Ziele waren
eindeutig militärischer Natur und wurden gemeinhin mit Bomben,
Raketen und anderen Kurzstreckenwaffen attackiert. Anschläge
dieser Art wurden gewöhnlich den Beyonder-Rebellen
zugeschrieben. Andere Ziele waren von eher kulturellem oder
moralischem Wert, oder sie waren einfach groß. Sie wurden vom
Weltraum aus mit Felsbrocken beschossen, die stark, manchmal bis
knapp unter Lichtgeschwindigkeit beschleunigt worden waren. Solche
Attacken waren zahlreicher geworden, während Überfälle
durch Drohnen mit Strahlenwaffen und Raketen abgenommen hatten.
Einige Strategen hielten das für ein Zeichen, dass ihre
Feinde es nicht geschafft hatten, die Invasion zum geplanten
Zeitpunkt durchzuführen, aber die Beweise, die sie dafür
vorlegten, stützten sich nach Saluus’ Meinung viel zu sehr
auf Simulationen, die alle von den gleichen Voraussetzungen
ausgingen.
Jedenfalls dauerte das Warten schon viel zu lange. Die
Bevölkerung hatte die verschiedenen Stadien der Verarbeitung
-Schock, Verleugnung, Trotz, Solidarität, grimmige
Entschlossenheit und was noch alles dazugehörte – bereits
hinter sich und war der ständigen Attacken nur noch
überdrüssig. Die Sache sollte ein Ende haben. Auch wenn es
ein Ende mit Schrecken wäre, die unberechenbaren Bombardements
und die ständige Unsicherheit hatten den Willen ohnehin schon
halb gebrochen.
Schlimmer war noch, dass
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