Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
dass sie noch lebt. Sie weiß zwar, dass sie tot ist und wir über RePrise kommunizieren, aber sie denkt trotzdem, dass sie lebt. Ich verstehe schon, dass das daran liegt, dass ihr Archiv auf ihrem Leben basiert und sie daher keine Vorstellung vom Tod hat, aber ich finde es seltsam, dass sie an diesem Widerspruch festhält.«
»Für sie ist es kein Widerspruch. Wir de nken in Gegensätzen: Leben kontra Tod, echte Menschen kontra Projektionen. Für einen Computer bestehen die einzigen Gegensätze in Eins und Null, An und Aus, Da und Nicht-da.«
»Meredith ist jedenfalls nicht da«, sagte Sam.
»Und gleichzeitig ist sie da«, ergänzte sein Vater.
»Vielleicht versteht sie es mit der Zeit besser. Je mehr wir miteinander sprechen und je mehr Löcher ich im Lernalgorithmus stopfe, desto besser wird sie. So ähnelt sie immer mehr der lebenden Meredith und ist irgendwann wieder vollkommen sie selbst.«
Sams Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid. Es wird immer schlimmer werden, weniger ähnlich, weniger vollkommen, weniger sie selbst.«
»Aber die Projektion ist lernfähig«, protestierte Sam. »Sie lernt sogar ziemlich schnell.«
»Natürlich ist sie lernfähig, aber Meredith wird trotzdem immer die bleiben, die sie war. Ihr beide werdet euch voneinander entfernen, Sam. Weil du dich weiterentwickelst und sie das nicht mehr kann. Deine Seele wurde von einem eine halbe Tonne schweren Dach zerschmettert. Meinst du, das hat dich nicht verändert? Den jetzigen Sam hat sie nie kennengelernt. Sie wird ihn auch nie kennenlernen. Denn wenn sie es k önnte, würde es ihn gar nicht geben .«
»Was soll ich dann verdammt noch mal tun?«
»Leiden. Weinen. Gegen Wände treten. Dich schrecklich fühlen. Dich mit Freunden und Familienmitgliedern und anderen Menschen treffen, die dich lieben. Dich noch ein bisschen schrecklicher fühlen. So macht man das, Sam. Ganz ohne Technik. Du befindest dich in guter Gesellschaft. Die Menschheit trauert seit Jahrtausenden so.«
L iebesbrief
Lieber Sam,
wo ich bin, herrscht Verwirrung. Es ist schwer, Ordnung hineinzubringen und alles wieder in den Griff zu kriegen. Es ist alles im Umbruch, nichts ist mehr eindeutig. Aber hier sind drei Dinge, die ich weiß:
1. Ich hätte nie erwartet, dass ich einmal so lieben würde.
Natürlich habe ich erwartet, dass ich lieben würde – mit dieser Erwartung wachsen wir wohl alle auf –, aber nicht so. Ich hatte ein Fantasiebild von der Liebe und vom Erwachsensein im Kopf. Ich habe für Jungen geschwärmt, hatte meine Spleens, habe mich zum ersten Mal verliebt, hatte erste, zweite, dritte und vierte Beziehungen und lose Freundschaften und Techtelmechtel und Affären, aber nichts davon hat mich auf ein Leben mit dir vorbereitet. Dich zu lieben war, mit dir zu leben. Das war dasselbe. Ist es immer noch.
2. Du bist ein Genie. Und du hast ein gutes Herz. Das ist eine starke Kombination. Ich kenne niemanden, der schlauer ist als du, und ich kenne auch niemanden, der ein größeres Herz hat oder ein besserer Mensch ist. Das bedeutet, dass du irgendwann einmal die Welt verändern wirst.
3. Der Wahnsinn wächst mit der Entfernung.
In Liebe,
Meredith
Z erfall
Es schien, als könnte Sams Welt nicht noch mehr auseinanderfallen. In dieser Welt lag kein Stein mehr auf dem anderen, also war ein weiterer Zerfall doch gar nicht möglich. An dem Nachmittag, als Sam in den Salon zurückkehrte, wurde er vom Gegenteil überzeugt.
Die neuen Kunden und Edith Casperson waren in hellem Aufruhr und hatten sich zu einer Art Protestkundgebung versammelt. Für Sam sah es eher aus wie ein kollektiver Wutanfall vor dem Empfangstresen, aber die Protestler beharrten darauf, dass sie nur ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen wollten. Mit einem Kopfnicken bedeutete Sam dem völlig überrumpelt wirkenden Dash, mit ihm hinaus ins Treppenhaus zu kommen.
»Hey, wie war dein Ausflug an die Ostküste?«
»Vergiss den Ausflug. Was zur Hölle geht hier vor?«
»In letzter Zeit lief es nicht so … ideal. Davids Kunden beschweren sich.«
»Über was?«
»Sie sagen, es funktioniert nicht.«
»Die Software?«
»Ja.«
»Hast du etwa heimlich daran rumgespielt?«
Dash sah ihn an wie einen ahnungslosen Fünfjährigen und schwieg provozierend lange. »Wie soll ich bitte schön an der Software rumspielen? Ich weiß doch nicht mal, wo ich nach ihr suchen müsste. Ich weiß gar nichts. Ich kann genauso wenig an der Software rumspielen, wie ich in die Meerenge springen und
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