Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
dringenden Wunsch verspürte, David beiseitezunehmen, ihn nach seinen Absichten zu fragen und ihm unmissverständlich klarzumachen, was mit ihm passieren würde, wenn er sie nicht pünktlich wieder nach Hause brachte.
Vielleicht war Sam deshalb so verwirrt, als sein eigener Vater später an diesem Abend per Video-Chat anrief. Kreidebleich und fassungslos nahm er das Gespräch an. Er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen, würde immer noch eins sehen.
»Was ist denn los, Sam?«, fragte sein Vater sofort.
»Was ist passiert?«, brachte Sam hervor.
»Nichts ist passiert. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht.«
»Warum hat mich denn niemand angerufen?«, fragte Sam , der tatsächlich glaubte, seinem Vater sei etwas zugestoßen, mit Panik in der Stimme.
»Ich rufe dich doch jetzt an.«
»Wir haben doch vor zwei Tagen no ch miteinander gesprochen. Da ging es dir noch gut! «
»Mei ne Güte, Sam, ich bin nicht tot!« Jetzt klang sein Vater hysterisch. Sams Verstand kehrte in die Realität zurück, so rasch, dass er glaubte, er würde in Ohnmacht fallen. »Dann hätte dich doch jemand informiert«, fügte sein Vater hinzu, dessen Stimme zwischen Sorge und Belustigung schwankte. » Außerdem hat niemand außer dir Zugriff auf den Algorithmus, wer hätte mich also hochladen sollen?«
»Oh, Gott, Dad, du hast mich zu Tode erschreckt.« Sam atmete tief durch.
»Alles in Ordnung bei dir ?«
»Die Macht der Gewohnheit, schätze ich.« Sam ignorierte die Frage. »Jeder, der mich heutzutage anruft, ist tot.«
»Ich weiß nicht, ob das so gesund ist.«
»Berufsrisiko.«
»Du darfst nicht so viel arbeiten. Du musst me hr aus dem Haus gehen, Freunde treffen, Zeit mit Lebenden verbringen.«
»Ich weiß, Dad, ich weiß.«
»Ich weiß, dass du das weißt. Aber irgendwie machst du es trotzdem nicht.«
»Ich kann nicht.«
»Du könntest schon.«
»Nein, kann ich nicht.«
Sams Vater seufzte. »Eigentlich habe ich angerufen, um dir eine Geschichte zu erzählen.«
» Ach so, natürlich «, antwortete Sam.
»Aber diesmal handelt sie nicht von deiner Mutter.« Sam hatte gar nicht gewusst, dass sein Vater auch andere Geschichten parat hatte. »Diesmal handelt sie von dir. Du erinnerst dich bestimmt nicht mehr daran. In dem Sommer, nachdem du drei geworden bist, hat uns Tante Nadene eine Woche lang das Strandhaus überlassen. Damals hatte sie noch nicht das Haus in Rehobeth, sondern eins in Ocean City. Eigentlich war es nur ein halbes Haus – eine Doppelhaushälfte –, noch dazu ein halb zerfallenes. Von außen sah es romantisch aus, sandgestrahlt und windgepeitscht, aber drinnen war es leck und modrig und feucht. Es hat gemuffelt, und es gab keine Klimaanlage. Du warst die ganze Woche unleidig, weil du dich nicht wohlgefühlt hast, und ich war auch die ganze Woche unleidig, weil du unleidig warst und weil ich das letzte Mal nach der Verlobung mit deiner Mutter in dem Strandhaus war. Am vorletzten Tag unseres Aufenthalts zog eine Frau in die andere Haushälfte ein. Sie war einen Tag früher angereist als ihr Mann und ihr Kind und freute sich auf ein bisschen Ruhe und Frieden ohne Kindergeschrei. Stattdessen bekam sie den unleidigen kleinen Sam. Statt dich anzuschnauzen oder dich zu ignorieren oder an einen anderen Strandabschnitt zu fliehen, hat sie dich einfach aufgemuntert und das hat dich beruhigt – auf die Idee war ich gar nicht gekommen. Sie ging mit dir Eis essen und kaufte dir einen Drachen und nahm dich mit zum Strand, um ihn steigen zu lassen. Als du schon nach zehn Minuten keine Lust mehr auf Drachensteigenlassen hattest, ist sie mit dir schwimmen gegangen. Und als du zehn Minuten später nicht mehr schwimmen, sondern wieder den Drachen steigen lassen wolltest, hat sie dich klaglos abgetrocknet und wieder den Drachen geholt. Als sie dich gefragt hat, was du zum Abendessen wolltest, hast du gesagt, dass du noch ein Eis willst, und auch das hat sie dir gekauft. Abends durftest du bei ihr Zeichentrickfilme gucken, bis du auf dem Sofa eingeschlafen bist. Am nächsten Morgen war sie unterwegs, deshalb konnten wir uns nicht von ihr verabschieden, aber wie durch ein Wunder warst du ruhig und zufrieden, während wir gepackt und uns auf den Weg nach Hause gemacht haben. Du warst ruhig, während wir im Stau standen, du warst ruhig, obwohl du kein Mittagsschläfchen machen konntest, du warst während der ganzen langen Rückfahrt ruhig. Erst als wir endlich zu Hause angekommen waren, hast du zu mir gesagt: ›Es war
Weitere Kostenlose Bücher