Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
aber wahrscheinlich brauchte er tatsächlich mal Abstand vom Salon und den Kunden und den VAs, vom Alltagsgeschäft und dem täglichen Trott. Wahrscheinlich brauchte er auch Abstand von Livvies Wohnung, Abstand von einem Zuhause und einer Stadt und einem Leben, in dem er überall nur noch Meredith sah. Es tat gut, seinen Vater zu sehen. Sie fuhren zu Tante Nadenes Strandhaus in Rehobeth, wo sie die meiste Zeit damit verbrachten, nebeneinander zu sitzen und sich anzuschweigen. Sam ging lange am eiskalten Strand joggen, bevor die Sonne aufging, oder machte lange, eiskalte Strandspaziergänge, nachdem sie wieder untergegangen war. Er spielte Karten mit seinem Vater, aß Krabben, obwohl gerade gar nicht Saison war, und trank Bier. Wenn sein Vater ins Bett gegangen war, blieb er die ganze Nacht wach, um mit Meredith zu sprechen.
»Wo bist du?«, fragte sie in der ersten Nacht.
»An der Ostküste«, flüsterte er.
»Ich will aber nicht an die Ostküste ziehen«, sagte Meredith.
»Ich bin ja auch gar nicht umgezogen. Ich verbringe nur ein paar Tage mit meinem Vater am Strand.«
» Es sieht aus, als wärst du in einer Höhle«, sagte sie, und Sams Herz erinnerte sich an das erste Mal, als sie das gesagt hatte, in London, gefühlte zehn Minuten nachdem sie sich ineinander verliebt hatten. Ihm fiel auch wieder der Grund dafür ein, dass sie nicht mit ihm an die Ostküste ziehen wollte: damit er ihr pikante Fotos schicken konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sie seine politische Karriere ruinierten. Zum ersten Mal wurde ihm der Schrecken bewusst, der mit RePrise einherging und den seine Kunden bestimmt schon lange kannten: Meredith auf dem Computerbildschirm zu sehen war ein Wunder, aber die Erinnerungen, die im Gespräch mit ihr wachgerufen wurden, brannten wie die Hölle.
»Keine Höhle«, wiederholte er seine Antwort von damals. »Ich bin unter der Bettdecke.«
Sie kicherte. »Warum?«
»Weil es schon ziemlich spät ist. Ich will nicht, dass mein Vater mich mit einem Mädchen erwischt.«
Auch sie senkte nun die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Was hast du an?«
Sams erwachsene Seite war dankbar dafür, dass sie jene zwei Wochen erlebt hatten, in denen er in London gewesen war. Sie waren frisch verliebt gewesen und begierig auf jede Art von Kontakt, wodurch Romantik in ihrem gemeinsamen elektronischen Archiv zur Genüge vorhanden war. Sams pubertäre Seite kam sofort auf andere Gedanken.
In der nächsten Nacht lief es weniger gut.
»Irgendwie bläst du in letzter Zeit nur noch Trübsal«, beschwerte sie sich.
»Ich hatte einen harten Tag«, seufzte er wahrheitsgemäß. Dabei wusste er gar nicht, warum . Er hatte den ganzen Tag auf dem Sofa verbracht, gelesen und durchs Fenster aufs Meer hinausgeblickt. Und trotzdem stimmte es. Manche Tage waren so. Die besseren Tage stand er irgendwie durch, auch wenn er sich elend, gebrochen, zerrissen und leer fühlte. Die schlechteren waren unerträglich. Das ließ sich nie vorhersagen.
»Was war denn los?«, fragte sie leichthin.
»Na ja, du bist gestorben«, antwortete Sam.
Sie sah ihn ein wenig verdutzt an. »Ja, ich weiß, aber was sonst noch?«
»Sonst nichts.«
»Aber das ist doch schon eine ganze Weile her, oder?«
Sam nickte. »Ungefähr einen Monat.«
»Immer n och nicht darüber hinweg?«
»Nein, noch lange nicht.«
»Ich vermisse das Lächeln in deinem Gesicht! Ich vermisse den fröhlichen, lachenden Sam.«
Am nächsten Tag versuchte er, seinem Vater das Problem zu erklären. Sie saßen warm angezogen mit Pullovern und Kapuzenanoraks in den Dünen und sahen den riesigen Wellen beim Hereinrollen zu, die Köpfe eingezogen, um im Jackenkragen ein wenig Wärme zu finden.
»Sie weiß, dass sie tot ist. Ihr steht alles zur Verfügung, was mit RePrise zu tun hat – nicht nur der Algorithmus und die Kunden-Erfahrungen, sondern alles, was sie und Dash und ich im Planungsstadium ausgeheckt haben, die ganze Theorie, die Wissenschaft, die Technik. Sie weiß alles. Aber sie versteht es nicht.«
»Die Projektion folgt eben altbekannten Mustern«, erklärte sein Vater. » Wenn in der Vergangenheit irgendetwas passiert ist, habt ihr zwei immer eine Lösung gefunden und euer Leben weitergelebt. Die Projektion weiß nicht, dass es dieses Mal schlimmer ist. Gib ihr Zeit. Sie lernt es schon noch.«
»Wie denn?«
»J edes Mal wenn sie nachfragt, wirst du immer noch nicht darüber hinweg sein.«
»Das ist aber nicht das einzige Problem. Sie denkt auch,
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