Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
Sam schrieb ihr am Sonntagabend eine E-Mail, und nachdem sie sich um acht Uhr am nächsten Morgen aus den Betten gequält hatten und die Treppe hinunterkamen, stand sie bereits vor der Tür des Salons.
»Sie sind zu früh dran «, stellte Dash verschlafen fest.
»Ich bin seit dreieinhalb Stunden wach«, entgegnete sie. »Gegen halb fünf fing Oliver an, in seinem Bettchen ›Funkel, funkel, kleiner Stern‹ zu singen, obwohl er den Text gar nicht kennt. Es ist ziemlich schwierig, weiterzuschlafen, wenn dein Kind immer wieder ›Funke, funke, la la la. Funke, funke, la la la. La la la la funke la. La la funke la la la. Funke, funke, la la Stern, la la la la la la la‹ singt. Also habe ich ihn mit in mein Bett genommen, aber er wollte lieber herumhüpfen, statt liegenzubleiben und weiterzuschlafen.« Dash drückte ihr wortlos seinen Kaffee in die Hand.
»Jetzt sieht er aus, als könnte er kein Wässerchen trüben«, merkte Sam an. Oliver saß im Tragegurt vor Emmys Bauch, lutschte engelsgleich an der Mähne seines Plüschlöwen und blickte Sam aus großen braunen Augen harmlos an.
»Das hat die Natur so eingerichtet, damit man seine Kinder nicht einfach in eine Recyclingtonne wirft, wenn man mal wieder die Nase voll hat von ihnen «, erklärte Emmy. Dann fing sie an zu weinen . Vielleicht war sie doch nicht der einfachste Fall.
» So schlimm kann es doch gar nicht sein «, sagte Dash beruhigend. »Sie sind einfach nur müde.«
»Das wird nicht ewig so weitergehen«, tröstete Sam sie. »Irgendwann schläft er durch.«
»Wenn er größer ist , wird es bestimmt leichter«, fügte Dash hinzu.
»Und er lernt auch bestimmt bald den ganzen Text von ›Funkel, funkel, kleiner Stern‹«, versprach Sam. »So kompliziert ist der schließlich nicht.«
Emmy lachte, hörte aber nicht auf zu weinen. »Warum fällt die Kindererziehung allen anderen so viel leichter?«
»Tut sie doch gar nicht.« Sam war froh, wieder Terrain betreten zu können, auf dem er sich auskannte. »Ihre Schwester hat sie bloß angelogen. Alle lügen.«
»Eleanor war der perfekteste Mensch auf der g anzen Welt.« Emmy verdrehte genervt die Augen.
»Mag sein«, antwortete Sam, »aber sie hat trotzdem am laufenden Band gelogen und übertrieben und Details weggelassen und Fakten unterschlagen und Geschichten erfunden.«
»Niemand stellt es ins Internet, wenn er einen Scheißvormittag hatte«, erlärte Dash. »Niemand postet Fotos davon, wie er zum hundertsten Mal die Windeln wechselt. Niemand veröffentlicht eine Statusmeldung, in der steht: ›Bin stinksauer auf mein Kind, weil es sich wie ein Arschloch aufführt.‹ Niemand teilt es der ganzen Welt mit, wenn sein Kind schlägt und tritt und dann das Abendessen auf den Boden pfeffert. Die Leute beschweren sich über das Wetter, Sexskandale von Politikern, schlecht spielende Sportmannschaften und die Länge der Warteschlangen, in denen sie gerade stehen, aber sie würden niemals etwas Schlechtes über ihre Kinder sagen, selbst wenn sie es verdient hätten.«
» Weil Sie und Ihre Schwester sich so nahestanden, mussten Sie nicht viel mit ihr per Video-Chat oder E-Mail kommunizieren«, erklärte Sam. »Sie haben sich ja immer persönlich gesehen. Das ist zwar toll, bedeutet aber, dass die Software sich größtenteils auf das Blog Ihrer Schwester und ihre Meldungen bei Facebook oder Google-plus oder Twitter stützt. Und dort hat sie nun einmal hauptsächlich glückliche Momente und glückliche Fotos und glückliche Gedanken gepostet. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch schlechte Momente hatte, vielleicht sogar fast ausschließlich. Es bedeutet nur, dass sie der Welt – wie alle anderen auch – nur ihre Schokoladenseite gezeigt hat.«
»Dann hat sie also vielleicht auch manchmal gedacht, dass Muttersein keinen Spaß macht?«, fragte Emmy mit wachsender Erleichterung.
»Ganz sicher sogar«, bestätigte Dash.
»Und ihre Kinder waren vielleicht auch manchmal total nervig? «
»Sind sie wahrscheinlich immer noch.«
Emmy grinste. »He, nichts gegen meine Nichte und meinen Neffen!« Dann verdüsterte sich ihre Miene wieder. »Aber was bringt mir das alles? Wie kann ich mit ihr mitfühlen oder mir Rat von ihr holen, wenn mal wieder alles schiefläuft? Wie kann ich sie beruhigen, wenn sie mich anruft und hysterisch herumschreit, und wie kann sie mich wieder beruhigen?«
»Gar nicht«, antwortete Sam sanft.
»Warum nicht?«
»Weil sie tot ist.«
»Aber ich weiß, wer Ihnen helfen kann.« Dash
Weitere Kostenlose Bücher