Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
manchmal ignoriert hat, aber Sie ihn nie.«
»Es ist nie zu spät, damit anzufangen .«
»In diesem Fall vielleicht schon«, sagte Sam behutsam. »Ich glaube, er hat Sie wirklich geliebt, Edith.«
»Aber nicht so sehr wie seine Pornos.« Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Sie hat ihn im Krankenhaus besucht.«
»Wer?«
»Leanne.«
Ediths Blick schweifte in die Ferne, sie war plötzlich ganz woanders. »Am Anfang kam sie manchmal und hat sich mit mir und den Kindern zu ihm gesetzt. Sie hatte immer Blumen oder etwas zu essen oder ein anderes Geschenk dabei, nie ist sie mit leeren Händen gekommen. Meist hat sie erzählt, was alles im Büro passiert war oder was ihre Schwestern – sie hat vier oder fünf, glaube ich – wieder alles Verrücktes angestellt hatten. Ich habe mich immer gefreut, sie zu sehen … Sie hat Bob zum Lachen gebracht, und uns auch. Sie war so … jung und gehörte irgendwie in eine andere Welt. Ihr ging es gut, sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Als es Bob irgendwann immer schlechter ging, ist sie nicht mehr gekommen. Eigentlich ist zu dem Zeitpunkt niemand mehr gekommen. Er hatte überall Schläuche, und überall tropften Flüssigkeiten … Das war ziemlich unappetitlich und irgendwie auch, na ja, intim. Sie wissen schon, der menschliche Körper … den meisten ist das peinlich. Zumindest bin ich davon ausgegangen, dass es ihr … Jedenfalls ist sie am Schluss, als er schon so viele Medikamente bekam, dass er ziemlich weggetreten war, doch wieder gekommen. Unappetitlich war er da nicht mehr – es war überhaupt nicht mehr viel von ihm da. Da hat sie es wohl doch noch über sich gebracht, zu kommen und sich von ihm zu verabschieden, ihrem Chef. So hat sie es zu mir gesagt: ›Er war der beste Chef, den ich je hatte.‹«
Sam griff über den Tisch und drückte Ediths Hand. »Das ist ein schlimmer Verlust, ich weiß. «
»Ach, es war sowieso keine besonders gute Beziehung. Außerdem ist sein Tod schon über ein Jahr her.«
»Das meinte ich nicht.«
Sie sah ihn an und brachte ein kleines, trauriges Lächeln zustande. »Also, was soll ich jetzt tun?«
»Reagieren. Wenn er I hnen das nächste Mal von seiner Affäre erzählt, reagieren Sie.«
»Wie denn?«
»Wie auch immer Sie möchten.«
L iebesbrief
Liebe Merde,
vielleicht hast du ja recht. Vielleicht bin ich wirklich ein Genie, aber klug bin ich deshalb noch lange nicht. Man nennt es gemeinhin Klugheit, aber für mich ist es etwas Solideres, Konkreteres (zumindest wäre es das, wenn ich klüger wäre). Ohne dich bringt es mir gar nichts, ein gutes Herz zu haben und ein Genie zu sein. Du warst das Herzstück unserer Idee – ihr Ursprung, ihr Zentrum, ihr moralischer Kompass, ihr Leitfaden. Ohne dich bin ich nicht klug genug, die richtigen Antworten zu finden. Helfen wir diesen Menschen wirklich? Immerhin weiß ich inzwischen, dass es den Kunden nicht in ihrer Trauer hilft, wenn sie herausfinden, dass ihre verstorbenen Angehörigen untreu waren. Wenn RePrise die möglicherweise wohldurchdachte Entscheidung der Verstorbenen, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, missachtet, mag das zwar ehrlich sein, aber nicht besonders hilfreich für den Heilungsprozess. Ich rede den Kunden und mir selbst ein, dass ich es nicht in der Hand habe, dass ich nichts erfinde, dass die Projektionen nur das sagen, was wahr ist. Aber ist es wirklich wahr? Verrät dieser winzige Schnipsel unserer Persönlichkeit, den wir öffentlich machen und dem Internet anvertrauen, wirklich, wer wir sind? Verstorbene Angehörige werden geliebt, aber sie enttäuschen auch bisweilen. Echte Menschen sagen auch nicht immer, was wir von ihnen hören wollen – eigentlich so gut wie nie –, oder reagieren nicht so, wie wir es uns wünschen. Was haben wir also davon, wenn wir die Projektionen den echten Menschen so ähnlich wie möglich machen? Ich habe keine Ahnung. Keinen blassen Schimmer. Gerade habe ich noch einmal deine letzte E-Mail gelesen und fand es erstaunlich, wie viel mehr du weißt als ich.
Ich liebe dich, weißt du das?
Sam
A lle Jahre wieder
Brachte Weihnachten das Beste in den Menschen hervor oder das Schlechteste? Sam hatte schon beide Theorien gehört und fand, dass keine von ihnen zutraf. Weihnachten kitzelte den Stress in den Leuten hervor und ihre Schuldgefühle und ihre Kreditkarten. In den Projektionen kitzelte es nur eins hervor: die zielstrebige Konzentration auf eine einzige Sache, nämlich Shopping. Nachdem Livvies Behauptung, sie
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