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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Wie damals im Krankenhaus. Aber das mußte eine Einbildung sein.
    Ich wollte den Tag abwarten. Ohnehin war ich viel zu erschöpft, um nun, blind, wie ich war, den Raum abzutasten. Auch hatte mein Handy seinen Geist aufgegeben. Restlos. Es konnte nicht einmal mehr leuchten. Also sank ich zur Seite und bettete meinen Kopf auf der noch immer luftgefüllten Schwimmweste, preßte meine Lippen auf die Plastikfläche und gab dem festen Kissen einen Kuß. Das tat ich wirklich. Bedankte mich auf solch intime Weise bei diesem Gegenstand, den ich einem anderen entwendet hatte. Niemand konnte ja sehen, was ich machte: wie hier ein erwachsener Mann eine Schwimmweste küßte.
    Ein Gedanke kreiste mich ein. Eine vage Einsicht. Daß ich nämlich dem Zehn-Millionen-Mann nicht nur unwillentlich die Schwimmweste vom Kopf gerissen, sondern ihm zuvor ebenso unwillentlich einen Schlag versetzt hatte. Einen Schlag, der seine Bewußtlosigkeit zur Folge gehabt und es ihm unmöglich gemacht hatte, sich zu wehren.
    Im absoluten Schwarz liegend, sah ich, wie sich das Puzzle meiner Schuld zusammensetzte. Ja, an dieser soeben geküßten Rettungsweste klebte Blut. Dennoch fühlte ich die Schuld nicht, ich sah sie nur, die gestanzten Teile, die sich zu einem Ganzen fügten.
    Aber war es denn nicht so, daß mein eigenes Überleben auch jenseits egoistischer Gründe über das des Zehn-Millionen-Manns zu stellen war? Nämlich angesichts meiner erst sechsundzwanzig verlebten Jahre, meiner vergleichsweise geringen Aufschübe. Immerhin war ich noch in der Lage, Kinder zu zeugen, produktiv zu sein, Steuern zu zahlen, die Welt zu gestalten, zumindest ein Stück davon. – Was hatten Leute, die siebzig waren, überhaupt in einem Flugzeug verloren? (Nichts gegen das Alter, aber die Herumtollerei der Pensionisten, dieser Anspruch, es noch einmal wissen zu wollen, Versäumtes nachzuholen, Plätze zu besetzen, Mauern einzureißen, das Ende zu ignorieren, war anmaßend und lächerlich. Ein Flugverbot für alle Leute über fünfundsechzig, und man hätte einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Weltklimas leisten können, ohne ernsthaft inhuman zu werden.)
    Ich schlief ein. Kurz vorher aber meinte ich, jemanden atmen zu hören.
    »Ach was, du hörst dich bloß selbst!« sagte ich mir.
    Sagte mir aber auch: » So atmest du nicht. Außerdem kommt es von dort drüben, aus der Ecke.«
    Dennoch, die Müdigkeit erstickte jeglichen Zweifel.
    Der Zweifel wartete, bis ich wieder wach wurde.

7
    Als ich genau das tat, nämlich erwachte, war Licht im Raum, nicht viel, aber doch. Sonnenlicht, das durch kleine runde Scheiben ins Innere der Boje drang, handbreite helle Balken, die den Raum querten, sich überkreuzten. Darin tanzende Partikel, silbriger Staub. Meine Mutter hätte jetzt sofort angefangen, hier sauberzumachen. Ich selbst aber spürte quälenden Durst. Sah mich um. Hoffte auf ein Vorratslager.
    Ich konnte nun einigermaßen erkennen, wo ich mich befand, erblickte die beiden Stockbetten, den hohen Schrank, sah die Geräte einer Funkanlage, alles außer Betrieb, ein Radar, das schwarze Löcher ortete, daneben erloschene Knöpfe. Der ganze Ort erinnerte an ein begehbares Museumsstück. Wäre da nicht die Bewegung des Wassers gewesen. Und das Faktum eines funktionierenden Signallichts. Und wäre da nicht …
    Ich richtete mich halb auf, drehte den Kopf zur Seite, rückte mit meinem Körper ein Stück nach links, und endlich bemerkte ich in der hintersten Ecke einen dunklen Flecken. Einen Flecken, der atmete. Ich atmete zurück und sagte mit heiserer Stimme: »Hallo!« Und noch einmal: »Hallo? Können Sie mich verstehen?« Und dann das Ganze auf englisch. Aber der Flecken rührte sich nicht und blieb stumm.
    War es möglich, daß es sich um einen anderen Überlebenden handelte? Ich konnte ihn so schwer erkennen. Er kauerte da wirklich ungünstig im Schatten. Einzig das Weiß seiner Augen stach hervor. Und darin zwei Pupillen gleich glänzenden Tintenflecken. Feucht und ölig. Mehr aber nicht.
    Keine Frage, er konnte mich besser sehen als ich ihn. Es mußte ein Mann sein. Eine Frau hätte längst etwas gesagt, nicht, weil Frauen mehr reden – damit würde ich nämlich ein dummes Klischee bedienen –, sondern … jedenfalls war ich mir sicher.
    War der Mann vielleicht tot? Und wenn ja, warum atmete er dann so deutlich hörbar? Auf eine schwere, wie ich eben meinte, männliche Weise.
    Oder hockte dort drüben gar kein Mensch? Eher ein … ein Bär? Ein

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