Der Allesforscher: Roman (German Edition)
jedoch …
Höchstwahrscheinlich war der Zehn-Millionen-Mann bereits tot, ertrunken im Inneren des Fliegers.
War ich deshalb ein Mörder?
Waren Leute Mörder, die aus brennenden Diskotheken liefen und dabei notgedrungen auf die am Boden Liegenden traten? Oder Leute, die das Geld besaßen, dem eigenen Kind ein lebensrettendes Organ zu beschaffen, und über das Wie und das Woher der Organbeschaffung nichts wissen wollten? Ab wann war man – moralisch gesehen – ein Mörder? Wenn man Hunderten von Leuten die Kündigung schickte, und einer von denen brachte sich um, hatte man sich dann schuldig gemacht?
Ich sagte es schon: kein Gegenstand, an dem nicht Blut kleben würde. Das Blut ist zwangsläufig. Produkte ohne Blutflecken sind eine Illusion. Mörder ist man so lange, bis man Opfer wird. – So fürchterlich es war, aber der Zehn-Millionen-Mann hatte nie eine Chance gehabt, lebend aus diesem Flugzeug zu kommen. Er war schlichtweg neben dem falschen Mann gesessen.
Und ich neben dem richtigen.
So hing ich in dieser strahlend gelben, luftgefüllten Halskrause, die mir das Leben bewahrte. Vorerst wenigstens. Denn weder konnte ich damit steuern noch mir Wärme verschaffen. Mein Bemühen, im Bereich der brennenden Flugzeugteile zu bleiben, mißlang. Alles und jeder geriet auseinander, separierte sich. Wir erlebten unseren eigenen Urknall. Ich konnte kaum noch etwas sehen, selbst die lichtspendenden Blitze entfernten sich. Bloß noch Wasser und Nacht.
So hilflos ich war, stellte ich dennoch Überlegungen an. Allerdings ohne daß mir etwas Konstruktives in den Sinn gekommen wäre. Was hätte in dieser Situation auch konstruktiv sein können? Nein, ich dachte an Wale. Ich dachte daran, wie gerecht es eigentlich wäre, von einem Tier dieser Gattung jetzt gerettet zu werden. Korrekterweise von einem Pottwal. Allerdings waren es wohl eher Schwertwale oder Große Tümmler, die sich zur Lebensrettung anboten. Egal, weder die einen noch die anderen fanden sich ein, um mich auf ihre Rücken zu nehmen oder mir eine Finne als Haltegriff zu offerieren. Die Natur zeigte sich ausschließlich von ihrer harten Seite, und das Schicksal blieb ungnädig. Es würde mir wohl nicht zugestehen, einem Wal auf eine andere Weise zu begegnen als die, die mich an einer Tainaner Straßenecke ereilt hatte.
Bei Finne konnte man freilich ebenso an Haie denken. Gemäß dem Schlimmer-geht’s-immer-Motto. Doch glücklicherweise waren heute auch die Haie woanders oder zumindest desinteressiert. Allein das Wasser bearbeitete mich von allen Seiten, eine zermürbende Kraft, in der Lage, gewaltige Felsen langfristig in kleine Steine zu verwandeln. Richtig, bei mir würde es schneller gehen.
Doch das gerade noch gescholtene Schicksal …
War da nicht ein Licht gewesen? Ein rotes Licht? Ein Zucken von rotem Licht? Der Eingang zum Jenseits? Eine Art Todesreklame? Oder meine Rettung? Ich entschied mich, nun doch konstruktiv zu werden und letzteres anzunehmen.
Aus der Tiefe des Wellentals heraus war nichts zu sehen, aber auf die Höhe des Kamms geratend, erkannte ich erneut den Punkt von Farbe, den raschen Wechsel von An und Aus, die flinke Taktung. Das war keine Illusion. Hier blinkte etwas. Ein Boot? Eine Boje?
Ich ruderte mit Armen und Beinen, gegen die Möglichkeit ankämpfend, den Punkt zu verfehlen, weil das Signalfeuer immer wieder außer Sicht geriet. War ich oben, sah ich es, korrigierte meine Schwimmrichtung, um sogleich ins aussichts lose Wellental zu stürzen. Das Ziel kam und ging. Dann aber schien es ganz verschwunden. Ich geriet in Panik. Ich hätte jetzt gerne jemandem in den Hintern getreten, jemanden verantwortlich gemacht. Den Regen! Das Wetter! Wie Kinder das gerne tun: Verschwinde, du blöder, doofer Sturm! Oder aber am besten die Person angiften, die das Wetter machte. Am allerliebsten jedoch die Leute von den Wetternachrichten. Die Meteorologen vom Dienst beschimpfen! Ihre politischen Arme im Fernsehen! Diese Sadisten, die da immer mit ihrem süffisanten Lächeln vor den Wetterkarten stehen und mit ihren Händen über ganze Länder und Kontinente fuchteln und so tun, als könnten sie die Wolken verschieben und freundliche Sonnen hervorlocken und den Regen dirigieren und die Winde in eine bestimmte Richtung zwingen. Schlimmer noch als die Sprecher sind die Sprecherinnen, Wetterhexen in Abendkostümen, die vorgeben, mit dem Schlag ihrer Wimpern Orkane auszulösen und … Ist schon jemand auf die Idee gekommen, Wetterkatastrophen
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