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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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prägnantesten Phänomene in einem noch so chaotischen Universum die Wiederholung ist.
    Auch diesen Vorstieg – also ein von unten gesichertes Vorausklettern – absolvierte Simon bravourös, nicht allein den Akt des Kletterns, die insektenhafte Gleichmäßigkeit der Bewegungen, sondern auch, wie er mit nur einer Hand die Expressen an die Haken fügte und sodann das Seil in den gebogenen Karabiner einschnappen ließ. Als hätte er das mit der Muttermilch aufgesogen. – Ich konnte mich nicht erinnern, daß Lana je ein Wort über das Klettern oder auch nur die Schönheit der taiwanischen Bergwelt verloren hätte. Sie hatte es mit Hirnen gehabt, nicht mit dem Sport oder der Natur.
    Mick erklärte mir, was ich da sah. Denn mir fehlten die Begriffe. Und auch die Worte.
    Als Simon wieder am Boden war, schaute Mick auf die Uhr und meinte mit Bedauern, gleich zu seiner Gruppe zu müssen. Und auch danach sei er leider verplant. »Aber ich würde Simon gerne weitertrainieren. Ich mache das auch umsonst.«
    »Umsonst ganz sicher nicht«, sagte ich.
    »Wie auch immer. Ich will es machen. Ich kann dann mal später sagen, ich war sein erster Trainer. Zumindest der erste hier in Stuttgart.«
    »Meine Güte, Sie wollen doch hoffentlich keinen Profi aus ihm machen. Ich meine … vergessen Sie nicht, Simon besucht eine Schule für geistig Behinderte.«
    Doch Mick zeigte sich pragmatisch: »Kriegt er Anfälle?«
    Ich dachte nach. Hatte Simon je eine Art Anfall gehabt? Das einzige, was immer wieder geschah, waren Momente, in denen er einem Schlafwandler glich. Sich bewegte, als würde er von jemand Unsichtbarem gezogen werden. Zudem hatte er sich bei diversen Tests vollkommen unwillig gezeigt. Aber wie hatte es eine seiner Lehrerinnen ausgedrückt? »Vielleicht sind es die falschen Tests.«
    Den Bergtest jedenfalls hatte er bestanden. Ich sagte: »Nein. Keine Anfälle.«
    »Gut. Und in Mathe will ich ihn auch gar nicht unterrichten«, versicherte Mick. »Wobei angeblich auch schon ein paar Mathegenies als geistig behindert galten.«
    Ich merkte an: »Na, ein wenig rechnen muß man aber schon beim Bergsteigen, oder?«
    »Manche rechnen und manche fühlen.« Damit war für Mick das Thema erledigt. »Also? Sehen wir uns morgen? Morgen oder Sonntag?«
    Ich hatte am Wochenende dienstfrei. Das hatte ich meistens, seitdem Simon bei mir war. Es paßte also. Andererseits hatte ich eigentlich gehofft, mit einem kurzen Besuch dieser Anlage das Kletterthema erledigen zu können. Doch diese Hoffnung konnte ich begraben. Ich willigte ein und sagte: »Gut, Sonntag.«
    »Sie sehen unglücklich aus«, stellte Mick fest.
    »Bin ich auch.«
    »Das wird sich ändern. Sie werden auch noch mit dem Klettern anfangen. Versprochen.«
    »Versprechen Sie mir lieber was anderes«, sagte ich. Genauer wurde ich aber nicht.
    Mick lachte.
    Ich dachte mir: »Du Teufel!«
    Selbiger »Teufel« drehte sich zu Simon hin, befreite ihn vom Gurt und hob die offene Hand hoch, damit Simon einschlagen konnte. Was er zu meiner Überraschung auch wirklich tat. So fühlte ich doch noch etwas wie Eifersucht. Überlegte aber, daß Simon diese Geste wahrscheinlich aus der Schule kannte. Auch geistig Behinderte praktizieren allgemeine Rituale.
    Mir hingegen reichte Mick die Hand in der alten Form. Ich schüttelte sie, und wir verabredeten eine Zeit für Sonntag.
    »Ciao!« sagte Mick und ging.
    Ich blickte hinunter zu Simon. »Keine Angst, wir sehen ihn wieder.«
    Wahrscheinlich verstand mich Simon. Denn beim Verlassen des Kletterzentrums wirkte er ungemein fröhlich.
    Und niemals würde er über Hürden sprinten.
    Als wir hinüber zur Stadtbahn marschierten, mischte sich die Nacht unter den Abend.

15
    Sonntags pausierten nicht nur viele Arbeitnehmer, sondern auch der Sommer. Wenig Licht, viel Regen. Es schüttete unaufhörlich und war unangenehm kühl geworden. Um so feiner, daß man im geschützten Raum klettern konnte.
    Wir hielten uns in einer Art niedriger Grotte auf, deren Boden mit weichen Matten ausgelegt war. Wenn zuvor von einem »lustigen Hautausschlag« gesprochen wurde, so paßte hier der Begriff der »bunten Beulenpest«. Der gewölbte Raum war übersät von kleinen und großen, mitunter stark verspielten Haltegriffen, wobei einige Wände gleich zu Beginn extrem spitze Winkel bildeten. Hier konnte man mit dem Rücken zum Boden klettern und die Ruheposition von Faultieren imitieren. Wer freilich über sechzig Kilo wog, war unter solchen Bedingungen ein armes

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