Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Ungeduld zeichnete rote Flecken auf seine Wangen.
Nun, trotz aller offenkundigen Begeisterung für das kommende Abenteuer, hatte ich erwartet, daß Simon mit seinen knochigen Armen und den knochigen Beinen gleich auf dem ersten Meter quasi hängenbleiben würde. Er hatte sich in der kurzen Zeit, die wir uns kannten, nicht etwa als Sportskanone erwiesen. Beim Ballspiel sah es immer aus, als würde der Ball ihn »übermannen«. Sein Laufstil besaß eine pinocchioartige Ausprägung, und beim Tischtennis konnte man meinen, er verwechsle den Schläger mit einem Schmetterlingsnetz. Er schlug die Bälle nicht, sondern versuchte sie einzufangen. (Seine Ungeschicklichkeit beim Pingpong erschien vielen als der markanteste Ausdruck seiner Behinderung, weil sie ja dachten, ein kleiner Chinese müßte so was im Blut haben.)
Kein Wunder, daß ich jetzt fassungslos zusah, wie Simon die mit Haltegriffen gespickte Wand hochmarschierte, die für ihn augenscheinlich keine Hürde darstellte.
»Langsam!« rief Mick.
Aber Simon wurde nicht langsam.
Während Mick kontinuierlich das Seil nachzog, wandte er sich zu mir um und fragte: »Ist das hier so eine Geschichte mit versteckter Kamera?«
In unserer aufgeklärten Welt schien man jede wundersame Wendung durch eine »versteckte Kamera« begründen zu wollen. Doch mein offener Mund war Antwort genug.
Mein offener Mund kommentierte tonlos, wie flüssig und leicht sich der kleine Knochenmann bewegte, die Haltegriffe immer nur kurz anfassend oder sich mit den Füßen abstoßend, wobei er auch Löcher und Unregelmäßigkeiten im Fels nutzte, ja sogar die ebene Fläche. Mick hatte Mühe, bei solcher Geschwindigkeit das Seil auf Spannung zu halten.
Und schon hatte Simon den kleinen Überhang erreicht, fixierte sich mit einer Hand, während die andere locker herunterhing. Er schaute zu mir herab und grinste mich an. Nicht triumphierend, aber doch stolz. Wie Kinder eben stolz sind, wenn sie ihre Eltern ob einer unerwarteten Leistung fassungslos machen.
»Okay, ich laß dich runter!« rief Mick.
Zwar deutete Simon an, seitlich des Überhangs weiterklettern zu wollen, aber dies hätte zu einem Vorstieg geführt, und Simon hatte ja keine Expreßsets bei sich, also vernähte Karabinerhaken, um sich im oberen Gelände zu sichern – mein Gott, natürlich nicht, schließlich war noch wenige Augenblicke zuvor ein bloßes »Schnuppern« in Betracht gezogen worden. Die behutsame Gewöhnung eines achtjährigen Anfängers.
Mick zeigte mit einer wiederholten Krümmung seines Fingers an, daß Simon nach unten kommen solle. Der Junge seufzte, hängte sich aber ohne weitere Umstände ins Seil, die Beine leicht gegrätscht, und stieß sich beim Hinuntergleiten in der bekannten waagrecht hüpfenden Manier vom Felsen ab.
Zum Schluß setzte er sanft auf. Unter seinen Füßen knirschten die glatten Kiesel. Ein kleines Klettermärchen war geschrieben.
Mick klopfte Simon bestätigend auf die Schulter, mir aber schenkte er einen fragenden Blick.
Ich sagte: »Ich kann Ihnen das auch nicht erklären. Von mir hat er es definitiv nicht.«
Wobei ich unerwähnt ließ, gar nicht der leibliche Vater zu sein. Das ließ ich stets unerwähnt. Simon besaß ja dank der mütterlichen Gene durchaus einen westlichen Einschlag, obgleich die markante Augenform sein Gesicht dominierte. Zumindest vom Standpunkt eines hiesigen Betrachters.
Wenn ich also sagte, er habe das nicht von mir, dann in der gleichen Weise, wie ein leiblicher Elternteil ein bestimmtes Talent seines Kindes einer anderen Quelle zuordnet.
Darum war auch naheliegend, daß Mick jetzt meinte: »Vielleicht von seiner Mutter. Sie sagten ja, er sei in den Bergen aufgewachsen.«
»Das schon. Aber ich weiß nicht, ob er dort geklettert ist.«
»Ganz offensichtlich ist er das«, stellte Mick fest.
Ein Eindruck, der sich weiter bestätigte, als nun an anderer Stelle eine höhere Wand in Angriff genommen wurde.
»Ich lasse Ihren Jungen diesmal den Vorstieg machen. Ist das okay?« fragte Mick.
»Kann da was passieren?« fragte ich zurück.
»Ein paar Schrammen, wenn er zuviel wagt und abrutscht. Der Schreck vielleicht, wenn er ins Seil fällt. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß so was passiert. Er klettert nicht nur schnell, sondern auch absolut sicher. Ich glaube, Sie haben da ein kleines Genie.«
Ich dachte: »Ausgerechnet!« Und ich dachte: »Als würde die Sache mit meiner Schwester nicht reichen.«
Aber man kann vielleicht sagen, daß eins der
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