Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Schläppchen minderjähriger Ballettänzerinnen an sich hatten, wollte man nicht an das zarte Schuhwerk verkrüppelter chinesischer Frauenfüße denken.
Der Trainer, der den Namen Mick trug, wollte uns in die Halle führen, doch Simon griff ihn am Arm, streckte seine Kopf Richtung Außenbereich und entließ jenen Laut, der in meinen Ohren auf ein Chaanda-sa-hrck! hinauslief.
»Was sagt er?« fragte Mick.
»Er will draußen klettern«, erklärte ich.
»Drinnen wäre aber besser für den Anfang«, meinte der Trainer. »Können Sie ihm das sagen?«
»Um ehrlich zu sein … er spricht nicht nur kein Deutsch, sondern auch sonst keine von den … wie soll ich sagen … von den gängigen Sprachen.« Sodann klärte ich Mick in wenigen Worten über die Besonderheit Simons auf.
»Körperlich ist aber alles in Ordnung, oder?« fragte Mick. »Nicht, daß Behinderte nicht klettern dürfen, aber ich muß es schon vorher wissen.«
»Keine Angst. Es ist einfach nur seine Sprache. Und wissen Sie, ich glaube, es wäre ihm sehr wichtig, draußen zu klettern. Er ist in den Bergen aufgewachsen. Das wird es wohl sein.«
»In welchen Bergen?«
»In Taiwan. Im Süden des Zentralen Berglandes. In einem Dorf, dessen Namen ich nicht kenne.«
»Wie? Ich dachte, Sie sind sein Vater.«
»Das weiß ich erst seit kurzem, daß ich das bin«, sagte ich. Und das war ja auch die Wahrheit.
»Also gut«, meinte Mick. »Gehen wir nach draußen und schauen mal, ob sich Simon da wohl fühlt. Die Figur zum Kletterer hat er ja. Schön dünn.«
Nun, auch Mick war nicht dick. Überhaupt waren hier nirgends dicke Menschen zu sehen, die an diesem warmen, von später Sonne erfüllten Abend auf den Felsen und Wänden herumturnten oder ihre Partner sicherten. Wobei, zum Sichern hätte man ja auch dick sein dürfen. – Ein großer Mangel des Homo sapiens besteht darin, nicht über ein variables Gewicht zu verfügen. Ein variables Gewicht, dazu vier Arme, mehrere Mägen, das wär’s.
Nun, der ausgesprochen dünne Simon war sichtbar glücklich, als wir jetzt vor die künstliche Felsenlandschaft hintraten. Welche aus der Nähe betrachtet sehr viel skulpturaler ausfiel, verspielter. Eine senkrecht dastehende, halbierte Schale, ein gewaltiger Gehäuseteil.
An einer Kante dieser Schale blieb man stehen. Bis zur Mitte hin war die Kletterstrecke recht moderat, leicht gewölbt, bevor dann zwei busenartige Buckel sowie ein kurzer, aber waagrechter Überhang jenen stark bogenförmigen Teil einleiteten, der zum höchsten Punkt hinaufführte.
Mick legte Simon den Gurt an, wobei auch er genau formulierte, was er tat. Im Grunde war es wie beim Arzt. Die erklären neuerdings auch immer alles, und man nickt dazu, selbst wenn man keine Ahnung hat und mitunter kaum die guten von den schlechten Nachrichten unterscheiden kann. – Freilich war noch nicht heraus, ob Simons Nicken hirnlos war oder eher sein Hirn bestätigte. Denn daß dieses Kind bei aller »Eigentümlichkeit der Sprache« nicht ganz dumm war, die Idee war mir auch schon gekommen.
Trainer Mick rief nun hinüber zu einer Gruppe von Kletterern, die im Kreis standen und sich unterhielten. Einer von ihnen kam, um Mick zu sichern, welcher leichtfüßig nach oben stieg und das Seil auf halber Höhe durch eine Umlenkung führte, einen Karabiner, welcher an der Spitze des kleinen Überhangs in einer Kette hing. Keine Frage, Mick hätte für diese kurze, leichte Route keiner Sicherung bedurft. Einer wie er wäre da wohl auch einarmig und blind hochgekommen. Aber spätestens zum Abseilen gehörten zwei.
Zurück auf dem mit kleinen, losen Steinen ausgelegten Boden, begann Mick das Seilende durch die Anseilschlaufe von Simons Gurt zu führen und sodann einen Achterknoten zu formen, den Anseilknoten, wie er erklärte, um in der Folge den eigenen Karabiner mit einem Sicherungsknoten auszustatten. So bildete sich eine endgültige wie lebenserhaltende Verbindung zwischen Wand, Kind und Trainer.
Das, was hier entstanden war, nannte sich Toprope-Sicherung. Mick sagte es laut vor: »Top … rope!« Dazu zeigte er gestisch an, wie das Seil von Simon aus nach oben verlief, über den Sicherungspunkt wieder nach unten führte und als Standplatzknoten in Micks Gurt mündete.
Ich muß gestehen, es hätte mich geärgert, hätte Simon, der sonst nie etwas nachsprach, sich jetzt dazu verführen lassen, das Wort »Toprope« nachzusagen. Was er aber nicht tat, sondern rasch an den künstlichen Felsen herantrat.
Seine
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