Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Kraft geronnen war. Meine Hände und Füße zitterten. Das Kräftigste an mir war mein Schweiß: kleine Glöckchen, die von meinem Körper baumelten und ihn noch schwerer machten.
Man spricht ja gerne von gefühlter Temperatur , aber es gibt auch ein gefühltes Körpergewicht .
Mick rief etwas zu mir hoch. Ich konnte es nicht verstehen. Ich war gefangen in meiner Angst wie in meiner Scham. Nicht vorwärts zu kommen war ja nicht schlimm, sondern der Umstand der Aufmerksamkeit, die ich auf mich zog, indem ich eben gar nichts tat, nicht einmal »abstürzte«. Wie lange wollte ich so verharren? Bis sie mit einem Kran hochkamen und mich herunterhievten?
Es war genau dieser Moment, wo man sich denkt: Ich möchte lieber tot sein als peinlich.
Man kann überhaupt sagen, daß das Dumme am Sterben ist, daß man es nicht öfter tun kann.
Es geschah nun, daß ein Kletterer, der links von mir nach oben stieg, sich gestisch anbot, mir zu helfen. Irgendein widerlich-lässiger Mensch mit Rastalocken, der sich mit seinen Fingerspitzen an einem winzig kleinen Element festhielt – auch schwarz, auch Lakritze, aber bloß ein Bonbon – und mit seiner freien Hand Zeichen in die Luft schrieb.
»Fick dich doch!« sagte ich. Weil es aber so laut in der Halle war, sagte ich es lautlos, meine Worte jedoch deutlich mit dem Mund malend.
In diesem Moment tat Mick einen Zug am Seil, heftig genug, daß ich endgültig den Halt verlor, zur Gänze aus der Wand geriet und in einem leichten Bogen zur bisherigen Route zurückschwang beziehungsweise schrammte, mit dem Knie gegen ein gelbes Teil schlagend. Ich schluckte, statt aufzuschreien. Immerhin wurde ich ein Stück nach oben gezogen und erreichte Elemente, auf denen meine Hände und Füße ausreichend Platz fanden. Ich spürte, wie Blut aus meinem Knie brach. Na, besser Blut als Urin.
Ich nutzte diesen Befreiungs schlag, um aus meiner Starre zu tauchen und den Weg nach oben fortzusetzen. Nicht, daß meine Angst sich gegeben hatte oder mit der steigenden Höhe eine emotionale Temperaturumkehr stattgefunden hätte, aber ich war wie losgetreten, als fiele ich nach oben. Auf eine weitere Lakritzenverkostung verzichtete ich freilich. Mied das Schwarz.
Am höchsten Punkt angekommen, vier Stockwerke oder so, griff ich nach der finalen Kante und rief laut aus: »Oben!«
Nun, das war weder ein Moment der Intelligenz noch der Poesie. Sondern der Erleichterung. Trotz beträchtlicher Höhe.
»Loslassen!« verlangte Mick. Ich ahnte es mehr, als daß ich ihn wirklich hörte. Es war ganz einfach logisch.
Wenn man als Laie etwas bestens kennt, dann ist es die Abwärtsbewegung von Bergsteigern am Seil, das charakteristische Bild, wie sie sich mit ihren Beinen vom Felsen abstoßen und in jener hüpfenden Weise nach unten gelangen.
Ich bemühte mich um eine ähnliche Haltung.
»Hände ans Seil!« rief Mick hoch.
Aber ich brauchte meine Hände, um immer wieder nach den Beulen und Auswucherungen und Bonbons zu greifen, sie kurz zu berühren, nur für den Fall, daß das Seil riß oder sich der Knoten löste, Dinge, die wohl kaum geschehen würden, so wie in aller Regel auch niemand von herumfliegenden Teilen eines Walfisches getroffen wird.
Erst ganz zum Schluß befolgte ich Micks Anweisung, umklammerte das Seil auf Höhe meiner Brust und landete mit beiden Beinen am Fuße der Kletterwand.
»Wow!« sagte Kerstin Heinsberg.
»Was meinen Sie damit?« fragte ich und sah sie streng an. Wollte sie mich auslachen?
Sie aber erklärte, sie hätte niemals die Nerven, so eine Wand hochzuklettern. Denn abgesehen davon, daß die Kraft in ihren Armen einzig und allein ausreiche, Stifte zu halten und Tastaturen zu bedienen, leide sie unter Höhenangst.
»Ich auch«, verriet ich ihr.
»Ja, das hat mir Ihr Freund gerade erzählt. Und genau aus dem Grund sage ich: Wow! «
Und schon wieder hatte Heinsberg es geschafft, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Wobei ich mich ertappte, wie sehr ich diesen Zustand genoß. Es war das gewohnte Spiel zwischen uns, und ich war glücklich, es erneut spielen zu dürfen. Glücklich, in das ungleiche Augenpaar schauen zu dürfen. Das Rehbraun und das trübe Blau.
Wie nebenbei warf ich auch noch einen kurzen Blick auf mein geschundenes Knie. Doch die Wunde war minimal. Ein roter Punkt bloß, als wäre ich ein verkauftes Kunstwerk in einer Galerie.
Während ich noch immer mit dem Seil verbunden war, machte ich Heinsberg und Mick miteinander offiziell bekannt, wobei mir jetzt
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