Der Allesforscher: Roman (German Edition)
daher hat Simon das Talent.«
Es klang vollkommen ernst gemeint, als existierten quasi auch fliegende oder frei schwebende Gene.
»Und was macht Ihre Schwester jetzt?«
»Sie liegt auf einem Friedhof in Köln.«
»Ein Absturz?«
Ich nickte.
»Und trotzdem lassen Sie Simon da hochsteigen.«
»Ist das ein Vorwurf?«
»Nein, gar nicht. Ich bewundere das. Und natürlich erst recht, daß sogar Sie selbst es versuchen.«
»Eigentlich wollte ich Simon das Hürdenlaufen beibringen.«
»Statt dessen klettern Sie nun.«
»Na, ich habe nicht vor, es zu übertreiben. Genauer gesagt, ich würde es gerne bei diesem einen Versuch belassen.«
»Das wäre aber schade«, fand sie. »Die Überwindung ist ein hohes Gut.«
»Wie? Sie selbst wollen es aber nicht versuchen, dachte ich?«
»Bei mir wäre diese Überwindung sinnlos, bei Ihnen aber hat sie einen Wert«, erklärte sie, und ohne es zu wissen, stieß sie ins selbe Horn wie Mick: »Sie folgen Ihrem Sohn.«
Ich sah hoch zu Simon und sagte: »Aber ganz sicher nicht in diese Wand.«
Simon hatte soeben den obersten Abschnitt erreicht und katapultierte sich mit dem rechten Bein voran über eine scharfe Kante. Der Stein in meinem Magen bekam ein Baby.
Am gleichen Abend saßen wir alle, ebenso Mick und seine Freundin, in dem Restaurant nahe meiner Wohnung. Erneut fragte mich Heinsberg nach meiner Schwester. Jetzt horchten auch Mick und seine Freundin auf. Bei aller Tragik des vor Jahren Geschehenen war da auch ein Reiz: der frühe Tod, der junge Tod. Früh und jung und beeindruckend. Sehr im Gegensatz zu jenen profanen Enden, die Menschen in Form verschluckter Gräten oder ungünstiger Gerinnsel ereilte. Oder im Zuge einer Besoffenheit im Autoverkehr oder jenes banalen Pechs, im falschen Moment eine Stromleitung berührt zu haben. Nein, der Tod meiner Schwester hatte … nun, er hatte Klasse. Und auf eine merkwürdige Weise gefiel es mir mit einemmal, darüber zu reden, auch über Astris Hang damals, rascher als die anderen sein zu wollen, vor allem rascher als die Jungs, und dafür auch ein gewisses Risiko einzugehen. So zumindest war es mir berichtet worden, der ich ja kein einziges Mal dabeigewesen war.
»Sag, Sixten, wie sieht der Berg eigentlich aus, wo das geschehen ist?« fragte Kerstin, die mir kurz zuvor das von mir gerne angenommene Duwort angeboten hatte.
»Wie meinst du aussehen? «
»Na, er hat ja wohl eine Form, der Berg.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Was?! Du warst nie dort«, staunte Kerstin.
»Nein, nie. Wieso auch? Das hätte sie nicht wieder lebendig gemacht.«
»Wer redet von Lebendigmachen? Aber … also, vielleicht klingt das übertrieben, aber der Berg hat deine Schwester umgebracht, da will man doch wissen, wie er ausschaut. Oder ist das blöd, wenn ich das sage?«
Ich überlegte, ob man eher dem Blitz oder eher dem Berg die Schuld geben sollte. In jedem Fall hatte Kerstin recht, wenn es sie erstaunte, daß ich nie versucht hatte – auch nicht in Büchern oder im Netz –, mir den Berg anzusehen, auf dem meine Schwester ums Leben gekommen war.
Als Kerstin und ich später am Abend auf dem Sofa meiner Wohnung saßen, Mick und seine Freundin gegangen waren und Simon wie eine betäubte Taube ins Bett gefallen war, da meinte Kerstin: »Du solltest mit dem Jungen dort hinfahren.«
»Zu dem Berg?«
»Ja.«
»Wieso? Um Simon zu zeigen, wie gefährlich sein neues Hobby ist?«
»Natürlich nicht. Einfach hinfahren und anschauen.«
»Ich kann den Sinn nicht erkennen«, sagte ich, aber das war eine Lüge. Ich hatte den Berg verdrängt und meine Schwester verdrängt. Und wenn ich behauptet hätte, Astri hätte mir wenig bedeutet, wäre das ebenso eine Lüge gewesen. Fremd, das schon, aber lieb fremd, wenn man sich darunter etwas vorstellen kann.
»Weißt du was?« sagte Kerstin, und dabei legte sie ihre Hand auf meine Knie und kam so nahe, daß mir ihr Anblick etwas verschwamm. Ich senkte die Augen, aber eigentlich nur, um mir ihren Busen anzusehen, der unter der bestickten Stretchbluse deutlich hervortrat und den Ausschnitt beim Einatmen spannte.
Ich war lange einer solchen Situation ausgewichen, im Grunde froh ums Alleinsein und erst recht froh ums Alleinsein mit dem Kind. Doch Kerstins Gegenwart, ihre Berührung, ihr Blick auf mir, braun und blaßblau, der Stern in der Mulde ihres Nasenflügels, ihr Geruch, das Leuchten heller Haut im Ausschnitt …
Ich fragte: »Ja, was denn?«
»Ich hab ’ne Idee. Wir fahren übernächstes
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