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Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Titel: Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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das Vordertor. Das Gefängnis bestand aus einem evakuierten Dorf mit niedrigenHäusern, um das die Deutschen ringförmig mehrere Stacheldrahtzäune gezogen hatten. Von den Zäunen allein fühlten wir uns nicht eingesperrt; sie waren nur Hindernisse, die potentielle Flüchtlinge aufhalten sollten, bis einer der Scharfschützen auf den drei Wachtürmen des Lagers ein sauberes Schussfeld gefunden hatte.
    Das Tor versperrte den einzigen direkten Weg aus dem Lager. Er wurde zwar von einem der Türme überwacht, aber wer im Zickzack davonrannte, hatte eine Chance von fünfzig zu fünfzig, lebend aus der Reichweite der Gewehre zu entkommen, während einer, der sich im Stacheldrahtzaun verfing, ein leichtes Ziel war. Ziegler kommandierte gewöhnlich zwei bewaffnete Wachen ans Tor.
    Seit wir eingetroffen waren, hatte niemand ernsthaft versucht, auszubrechen. Wir waren unbewaffnet, und das Lager befand sich auf einem vom Feind besetzten Territorium. Selbst wenn uns ein Ausbruch gelungen wäre, hätten wir kaum gewusst, wohin wir uns wenden sollten. Viele von uns hatten sich der Hoffnung hingegeben, sowieso bald befreit zu werden, und wir alle hegten den Verdacht, dass die Wächter Informanten unter den Gefangenen hatten. Es erschien also nicht ratsam, einen Ausbruch zu planen, und überdies auch unnötig riskant.
    Aber das offene Tor sah verdammt verführerisch aus.
    »Wenn der Jude an mir vorbeikommt, dürft ihr alle durch das Tor da gehen.«
    Ziegler suchte keinen echten Zweikampf. Er war wütend, und er wollte seine Wut an jemandem auslassen. Und mich hatte er bereits so zugerichtet, dass ihm kein besonders großer Widerstand drohte.
    Die beiden gebrochenen Finger an meiner rechten Hand waren mit Streifen von zerrissenen Bettlaken bandagiert, aber meine zerquetschten Zehen ließen sich nicht schienen. Außerdem gab es kein Verbandsmaterial für die Wunden auf meinem Rücken, die Ziegler mir mit der Peitsche zugefügt hatte, undauch keine Antibiotika. Über mein regennasses T-Shirt zogen sich Streifen aus Blut und gelbgrünem Eiter.
    Im Fieberwahn war ich kaum Herr meiner Sinne und hörte nicht, dass er nach mir rief. Wallace stützte mich, damit ich nicht aus der Reihe fiel.
    Die Bewacher hatten kürzlich Gefallen daran gefunden, mich zu strangulieren, und die Schürfwunden, die der Strick an meinem Hals hinterlassen hatte, brannten, wenn der Regen über sie rann oder ich zu tief atmen wollte. Mein Brustkorb war blau von zahlreichen Blutergüssen.
    »Wie wär’s, Buuuuuuuuck«, rief Ziegler in einer deutschen Nachahmung eines Kino-Cowboy-Singsangs. »Wo bleibt der Kampfgeist?«
    Jemand zauste mir das Haar, und ein anderer drückte mir ermunternd den Arm. Es tat weh.
    »Schätze, ich hab genug«, sagte ich.
    Seine Halssehnen strafften sich unter der Haut, als er mich höhnisch anblaffte. »Genug wovon?«
    »Ich hab …« Ich hielt inne, stolperte im Morast. »Ich hab genug, um dich Schwein fertigzumachen.«
    Er war drauf und dran, mich umzubringen, und mir wurde schummrig vor Augen. Aber ich rechnete mir aus, dass ich dem Dreckskerl einen Fausthieb verpassen konnte. Ich krümmte die gebrochenen Finger in die Faust. Mein Arm schrie auf vor Schmerzen, aber davon wurde ich zumindest etwas wacher.
    Die Gefangenen machten mir Platz, und ich trat in die Mitte des Appellplatzes. Das Unwetter hatte den Boden zu Matsch aufgeweicht, und jedes Mal, wenn ich den Fuß hob, um einen Schritt zu tun, saugte sich dieser Matsch an meinem Stiefel fest.
    Der Scheißkerl Ziegler war ein ziemlicher Brocken, mindestens fünfzehn Zentimeter größer als ich, und er muss an die hundertzwanzig Kilo hartes und wohlgeformtes Muskelfleisch auf die Waage gebracht haben. Er sah aus wie der leibhaftige Schutzpatron aller Judenprügler. Ich fühlte mich so schlecht,dass ich fahlgrün gewesen sein musste, und nach sechs Monaten des Hungerns war ich ausgemergelt.
    Ich hustete ausdauernd und rasselnd und spuckte einen Mundvoll blutigen Schleims in den Matsch. Ich sammelte mich, stützte die Hände auf die Knie und richtete mich dann auf, so gut es ging.
    »Seit fünf Wochen hab ich keine mehr geraucht, und ich will eher Scheiße fressen, als dass ich sterbe, ohne mir nicht noch mal eine angesteckt zu haben«, sagte ich zu ihm. Ich hätte mir mit den Fingernägeln ein Loch in eine Backsteinmauer gekratzt, wenn auf der anderen Seite eine Packung Lucky Strikes gewartet hätte.
    Einige Männer jubelten mir zu, aber Ziegler stürzte sich auf mich und legte seine

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