Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman
Kleidung angezogenund ihn auf einem plastikbezogenen Lehnsessel deponiert, der dicht an seinem frisch gemachten Bett stand. Sie hatte jedoch nur wenig tun können, um seine Gebrechlichkeit zu verbergen. Sein Mund hing schlaff nach links, und das linke Auge schien nicht deutlich erkennen zu können, was er betrachten wollte. Ich war halt genug rumgekommen, um das Opfer eines Schlaganfalls zu erkennen, wenn ich eins sah.
Aber trotz der Lebensjahre und der Falten und der Hautlappen, trotz des hängenden Augenlids und des sabbernden Mundes erkannte ich Heinrich Ziegler. In seinen Augen stand immer noch dieselbe Kälte wie damals, als er mir den Schädel einschlagen wollte. Die Hälfte seines Mundes, die noch mit dem Gehirn in Kontakt stand, war zum selben verächtlichen Hohnlächeln geschürzt wie damals.
»Ist er das?«, fragte Tequila.
»Ich glaub schon«, sagte ich und wandte mich an Winters. »Kennen Sie mich noch?«, fragte ich ihm.
»Hab Sie noch nie gesehen«, sagte er. »Keinen von Ihnen beiden. Sind Sie die Männer, die mir mein Haus genommen haben?«
»Es ist über sechzig Jahre her«, sagte Tequila. »Wie sicher bist du dir?«
»Wenn du dir seinen linken Arm ansiehst, auf dem Bizeps an der Achselhöhle, müsstest du entdecken, dass dort seine Blutgruppe eintätowiert ist. Die SS-Typen machten das für den Fall, dass sie bewusstlos ins Lazarett eingeliefert wurden und Transfusionen benötigten. Uns halfen die Tätowierungen nach dem Krieg, um Verbrecher zu überführen, die inmitten der Zivilgesellschaft untergetaucht waren.«
Winters’ linker Arm hing schlaff herunter, er war nach dem Schlaganfall offenbar bewegungsuntüchtig geblieben. Tequila packte ohne viel Federlesens zu und riss dann Winters’ Sweatshirt am Halsausschnitt weit herunter, um nach der Tätowierung zu suchen.
»Blutgruppe A«, sagte er.
Das reichte, um alle Zweifel aus der Welt zu schaffen: Henry Winters war Heinrich Ziegler. Ich beugte mich vor und bleckte meine Zähne, weil ich hoffte, ihm dadurch Angst zu machen: »Hallo, Heinrich.«
»Ich heiße Henry«, sagte Ziegler. Er wirkte eher verwirrt als verängstigt. »Wer sind Sie?«
Tequila ließ den Arm los, und der fiel kraftlos gegen Zieglers linke Körperseite. Ich erinnerte mich daran, dass ich meinen Arm auch nicht mehr hatte heben können, nachdem mich die Kugel getroffen hatte.
»Ein hübsches Tattoo schmückt Sie da. Ich kann auch noch ein Kriegssouvenir bieten.« Ich zog mein Hemd beiseite und zeigte ihm die konkave, faustgroße Stelle wächsernen Narbengewebes an meiner Schulter, wo die Kugel, die durch meinen Rücken eingedrungen war, eine kegelförmige Austrittswunde hinterlassen hatte. Bei dieser Zurschaustellung zwickte mich der Riemen meines Halfters und erinnerte mich daran, was ich bei mir trug.
»Ich kenne Sie aus Kriegszeiten?« Er plierte mit seinem gesunden Auge. »Nein, das kann nicht stimmen. Die Männer, die ich aus Kriegszeiten kenne, sind jung.« Er zeigte auf Tequila. »Vielleicht habe ich den da schon mal gesehen.«
»Der Krieg war vor fünfundsechzig Jahren«, knurrte ich ihn an. »Das hier ist mein Enkel Jägermeister.«
»Jetzt reicht es aber, Grandpa.«
»Fünfundsechzig Jahre?«, fragte Ziegler. Er dachte nach, schaute an seinem toten Arm hinunter und schien überrascht, dass er sich nicht bewegen ließ. Er fasste sich und versuchte instinktiv, seine Verwirrung zu überspielen. »Also, äh, ich kenne Sie also aus Kriegszeiten?«
Ich kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.
» Sprechen Sie Deutsch ?«, fragte er und senkte dabei die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern.
Ich wusste nicht, was ich zu finden erwartet hatte, aber das hier war es jedenfalls nicht. »Nein, ich war auf der anderen Seite«, klärte ich ihn auf.
»Oh«, sagte er. Dann sah er mich wieder an, und ganz kurz schien Einsicht seine Miene zu erhellen. »Sie sind also gekommen, um mich zu töten?«, fragte er fast so, als ob es ihm recht sei.
Die Frage war gut, und es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich ihn auf der Stelle umgebracht. Ich spürte nur allzu deutlich das Gewicht meiner Waffe unter der Achsel, und außerdem stieß mir die Ecke meines Merkhefts immer wieder in die Seite.
Ich hatte mir gesagt, dass es darum ging, dem Tod zu trotzen, ihn in die Knie zu zwingen, um die gerechte Strafe über einen Unmenschen zu bringen, wenngleich Leute wie mein Arzt fanden, ich sei zu schwächlich und hinfällig, und mein eigener Enkel der Auffassung war, ich
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