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Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Titel: Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Meadowcrest zu bieten haben.«
    Das hatte ich. Ein paar Freunde, die von Pflegediensten unterstützt wurden und auch welche, die in geschlossenen Abteilungen lebten. Und ich kannte eine ganze Anzahl Menschen, die aus solchen Abteilungen in kleinere und fiesere Quartiere umgezogen waren. Gewöhnlich war es mir unerträglich, diese Dreckslöcher zu besuchen. Wenn Leute also dorthin verschwanden,sah ich sie anschließend kaum noch, es sei denn, ihre Familienmitglieder brachten sie ins Jewish Community Center mit. In einer Abteilung für Demenzkranke war ich jedenfalls noch nie gewesen.
    »Er wird Sie nicht erkennen«, erklärte die Schwester. »Ich sehe ihn jeden Tag, und mich erkennt er auch nicht wieder. Es bedeutet nicht, dass er unhöflich ist oder Sie ihm unwichtig vorkommen, sondern er hat eine Krankheit, durch die sein Gehirn in der Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern, beeinträchtigt ist. Verstehen Sie?«
    Ich nickte.
    »Okay. Sehr schön. Wahrscheinlich wird er im Gespräch leicht den Faden verlieren, weil er sich neue Dinge nicht merken kann, nicht einmal das, was im Moment geschieht. Aber es heißt nicht, dass er sich von Ihnen gelangweilt fühlt. Er vermag keiner Fernsehsendung zu folgen und kann auch keinen Zeitungsartikel verstehen. Es ist eine furchtbare Krankheit, mit der er leben muss. Seien Sie also bitte nachsichtig mit ihm. Wenn man diese Heimbewohner aufregt, vergessen sie zwar schnell, was geschehen ist, wissen aber sehr wohl noch, dass da etwas war, das sie verstört hat. Wenn sie dieses Gefühl haben, aber nicht wissen, woher es kommt, verängstigt es sie.«
    »Wir wollen ihm ganz sicher nicht den Nachmittag verderben«, sagte ich.
    Sie ging mit uns einen Korridor entlang, der von der Hauptlobby abbog, und blieb schließlich vor einer Tür stehen, deren Namensschild Henry Winters als Bewohner auswies. Unter dem Klopfer war mit Klebeband das Bild eines aus Papier gefalteten Thanksgiving-Truthahns befestigt. Mich erinnerte das an Bastelarbeiten, bei denen Kinder die Umrisse ihrer Hand nachzeichnen und anschließend mit einer stumpfen Schere die Papierhände ausschneiden.
    Ich deutete darauf und fragte: »Seine Enkel?«
    Die Schwester schüttelte den Kopf. »Regelmäßige Förderungverlangsamt den Krankheitsverlauf, und daher halten wir dienstags und donnerstags Mal- und Bastelstunden ab.«
    Tequila verbiss sich das Lachen.
    Die Schwester warf ihm über den Brillenrand einen feindseligen Blick zu. Sie schien nicht auf den Gedanken zu kommen, dass es etwas Komisches hatte, wenn ein ehemaliger SS-Offizier Papiertruthähne bastelte. »Bevor Sie hineingehen, möchte ich mich davon überzeugen, dass er Besucher empfangen kann«, sagte sie.
    Sie klopfte, wartete eine Weile und klopfte nochmals.
    »Mister Winters?«
    Keine Antwort.
    »Mister Winters?«
    »Verpisst euch«, tönte eine Stimme von drinnen. Keine Spur eines deutschen Akzents, aber ich meinte den leisen Anflug von angestrengter Überdeutlichkeit zu vernehmen, wie ich sie schon öfter in den Stimmen derjenigen Europäer hatte mitklingen hören, die die amerikanische Aussprache fast fehlerfrei meisterten. Oder vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Ich warf Tequila einen Blick zu, und sein bekümmerter Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich nicht als Einziger annahm, Heinrich Ziegler könne wohl kaum in Missouri gelandet sein und sich dort in einem fleckigen Sweatshirt mit Basteleien die Zeit vertreiben.
    »Unsere Patienten führen sich manchmal recht streitlustig auf«, sagte die Schwester.
    »Oh, das kann dieser hier aber auch«, sagte Tequila und zeigte zum Spaß auf mich.
    Ich sah ihn mürrisch an.
    »Aus diesem Grund habe ich einen Schlüssel«, sagte die Schwester. Sie schloss die Tür auf und stieß sie nach innen. Der Ammoniakgestank schaler Pisse war so überwältigend, dass ich zurückschreckte. Tequila machte einen Schritt rückwärts. Die Schwester reagierte gar nicht; keine Spur von Überraschung. Der Gestank gehörte offenbar zu ihrem Job.
    Der Raum war dunkel und die Jalousien vorm Fenster waren geschlossen, aber ich erkannte die Umrisse eines Mannes, der sich auf einer mit Plastik bezogenen Matratze zusammenkauerte.
    »Ja, Inkontinenz gehört zu den verbreiteten Problemen auf der Demenzstation«, sagte die Schwester. »Diese bedauernswerten Menschen vergessen, dass sie mal müssen, bis es zu spät ist, um es noch auf die Toilette zu schaffen. Wir legen ihnen Einwegwindeln für Erwachsene an, aber wenn sie in ihren Zimmern

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