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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
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Kampfgebiet, war inzwischen wiederhergestellt worden. Er entsprach der Beschreibung in Mos Reiseführer mehr als alles andere, was er bis jetzt in Kabul gesehen hatte.
    Er stieg die Terrassen hinauf und wandte sich dann zur Seite, hinein in die kühlen Schatten der Bäume. Der Rasen unter seinen Füßen federte leicht nach. Rosa Blüten schäumten vor einem Hintergrund aus grünem Laub. Tulpen, winzige, farbenfrohe Kelche, wirkten wie zufällig unter die Bäume hingetupft. In der Nähe der Außenmauer, die den Garten umgab, warfen dicht an dicht gepflanzte Maulbeer-, Mandel- und Feigenbäume einen noch tieferen Schatten. Mo roch feuchte Erde, Frühlingserde, zertretenes Gras und eine kaum wahrnehmbare, blumige Süße.
    Auch die Mängel des Gartens blieben ihm nicht verborgen. Schließlich hatte er seinen kritischen Verstand nicht im Hotel zurückgelassen. Was dem Bagh-e-Babur fehlte, war Perspektive. Es gab für den Besucher keinen natürlichen oder auch geführten Rundgang, kein Ziel. Durch die Jahrhunderte hindurch zugefügte Neuerungen – ein Mausoleum, eine Moschee, ein Pavillon, ein Teich – verliehen dem Garten das zufällige Aussehen einer schlecht geplanten Stadt.
    Das Mausoleum gehörte Babur, den Mos Buch als Krieger und Ästheten beschrieb. Seine letzte Ruhestätte war ein massives Gebilde aus weißem Marmor, das im absoluten Widerspruch zu Baburs ausdrücklichem Wunsch stand, nichts möge sein Grab bedecken, »damit Regen und Sonne herabfallen können und vielleicht eine Wildblume zum Wachsen ermutigen.« Stattdessen stellten Judasbäume ganz in der Nähe ihre violette Blütenpracht zur Schau.
    Auf einer tiefer gelegenen Terrasse erhob sich eine anmutige Moschee aus weißem Marmor, unter deren Vordach drei Frauen ihr Mittagessen, bestehend aus Reis und Fleisch, aufwärmten. Einen schönen Gegensatz zum Weiß der Moschee bildeten die dunklen, exakt geschnittenen Formen der Zypressen, die sie rechts und links einrahmten. Die Form der Bäume erinnerte Mo an große Flaschenbürsten oder Kalligrafiefedern. An jenes »Architektur gegen Terrorismus«-Seminar: Zypressen als Verteidigungslinie, zerfetzt und zerzaust, aber immer noch aufrecht.
    Er stieg zur nächsten Terrasse hinab und setzte sich vor einen kleinen, eleganten Pavillon. Vor ihm spiegelte das lange, schmale Band des Kanals den Himmel wider. Unter den Mandelbäumen ertönte ein Freudenschrei. Die Jungen, die ihn zum Garten geführt hatten, waren zurückgekommen und spielten eine Mischung aus Krockett, Krickett und Hufeisenwerfen, wobei jeder auf den geworfenen Stein des anderen zielte. Das leise Klacken eines Treffers rief Freudenschreie hervor, ein dumpfer Aufschlag im Gras verzweifeltes Aufstöhnen. An einem Wasserhahn kämmte sich ein junger Mann mit Hilfe eines kleinen Handspiegels, wandte auf der Suche nach Makeln den Kopf hin und her. Mehrere Frauen schlugen ihre Kopfbedeckungen nach hinten wie Nonnenschleier und wandten die Gesichter der Sonne zu. Die Mauern dämpften die Geräusche der Stadt, löschten sie aber nicht vollständig aus.
    Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Er dachte zurück an eine Reise nach Indien, nach Kaschmir, als er noch ein Kind war. Auch damals hatten sie Baghs besucht. Er erinnerte sich, dass er mit den Füßen in einem rechteckigen Bassin vor einem Wasserfall gestanden hatte und gern darin geschwommen wäre, an gigantische Dahlien und irgendwelche violette Blumen, geformt wie Glocken, Terrassen wie diese hier, und im Hintergrund des Gartens ein Berg, pelzig-dunkelgrün umhüllt. Klare, kühle Luft. Ein Pavillon – aus schwarzem Marmor? –, in dem sie ein paar Minuten gesessen hatten. Springbrunnen, die Wasserfontänen in die Luft spritzten. Auf der anderen Seite des Weges ein großer See, glatt wie ein Spiegel, silbrig glänzend.
    Versunken in seinen Erinnerungen blieb er sitzen, bis es anfing zu dämmern, das Licht des Gartens weich und diesig wurde und der klagende Ruf des Muezzin über ihn hinwegflutete. Von überallher strömten Männer auf den Ausgang und die dahinterliegende Stadt zu, so unaufhaltsam wie der Kanal, der die Terrassen hinunterfloss. Mo spürte ein Ziehen, passiver als den Wunsch, ihnen zu folgen, als sei er ein Tropfen, der von einem Wasserlauf aufgenommen wurde, dessen Größe er nicht ermessen konnte. Und doch blieb er sitzen, bis er sah, wie ein Mann auf einer Steinmauer am Rand der Terrasse niederkniete, um für sich allein zu beten. Nachdem Mo Gesicht und Hände als Zeichen der Reinigung

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