Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Waldman
Vom Netzwerk:
ließ ein alter Mann eine Gebetskette durch seine Finger gleiten, die weiße Kappe auf den weißen Haaren wie eine Wolke über schneebedeckten Bergen. Als Mo näherkam, leuchteten seine graugrünen Augen auf. Sein Lächeln enthüllte Zahnlücken und Zahnstümpfe, als sei es vermint worden.
    »As-salamu alaikum«, sagte der Mann.
    »Aleikum as-salam«, antwortete Mo.
    Während sein Magen ihm weitere Qualen bereitete, wartete er auf das leise Gemurmel der restlichen Begrüßungsworte.
    »Toilette?«, fragte er dann.
    Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf.
    » WC ?« Wieder schüttelte der Mann den Kopf und Mo suchte nach einer universalen Geste für Toilette. Er drückte die Hände auf den Bauch. Der Mann deutete auf seinen Mund, hielt Mo anscheinend für hungrig, bot ihm vielleicht etwas zu essen an. Verzweifelt kauerte Mo sich hin, klopfte auf seine Kehrseite, rieb sich erneut den Bauch, hob die Hände, verzog fragend das Gesicht und sah sich wie suchend um. Mit einem leisen Lachen nickte der Mann und bedeutete Mo, ihm in einen engen Durchgang zwischen zwei Häusern zu folgen. Ein widerlicher Geruch wurde immer stärker, je weiter sie durch die Gasse gingen. Dann standen sie vor einem kleinen Klohäuschen. Drinnen stieß Mo die Tür zu und kauerte sich über das Loch im Boden. Der Gestank war so schlimm, dass es ihn würgte, bevor er daran dachte, durch den Mund zu atmen, während er gleichzeitig versuchte, die Balance zu halten, ohne die Wände zu berühren. Seine Därme entleerten sich in gewaltigen, stinkenden Stößen, er war nur noch Tier. Als er schließlich aufstand und schwankend sein Gleichgewicht wiedergewann, fiel sein Blick in einen See voller Inseln aus Scheiße.
    Beim Pinkeln zeigte ihm ein winziges Seitenfenster die flachen Dächer der Häuser, die sich hinunter in die Stadt ergossen, und dann tauchte, wie ein Sonnenfleck in seinen Augen, ein Stückchen Grün auf. Als er das Klo verließ, über ein dreckiges Rinnsal hinwegbalancierte, das in eine Gosse sickerte, entdeckte er die grüne Oase aufs Neue, sah sie nun als riesiges grünes Quadrat, in dem Wasser schimmerte, ringsum eingefasst von Mauern. Frisch, rein. Er deutete darauf, und sein Retter zeigte auf einen Pfad, der den Hügel hinunter führte. Mo legte dankend die Hand aufs Herz.
    »Chai?«, bot der Mann ihm an.
    Mo schüttelte den Kopf. Er dürstete nach diesem Grün. Der Mann rief etwas und klatschte in die Hände, und zwei kleine Jungen tauchten auf, wie Kobolde in ihren traditionellen Gewändern. Sie versuchten, sich hintereinander zu verstecken, während sie Mo gleichzeitig neugierig musterten. Der alte Mann sagte etwas zu ihnen und bedeutete Mo, ihnen zu folgen. Wieder legte Mo die Hand aufs Herz und ging den Jungen nach, atmete die Staubschwaden ein, die unter ihren Plastiksandalen aufstiegen. Die Sonne fräste sich in seinen Kopf. Nach etwa zehn Minuten traten sie aus dem Slum heraus auf eine gepflasterte Straße, die weiter nach unten führte. Nachdem die Jungen Mo mit Gesten zu verstehen gegeben hatten, dass er ihr folgen solle, verschwanden sie den Hügel hinauf, von dem sie gekommen waren. Kurz darauf gelangte er an eine glatte Lehmmauer, gekrönt von spitzen Bögen, zu hoch, als dass er über sie hinwegsehen konnte, die zu seiner Rechten aufragte. Dicht an der Mauer entlang ging er weiter talwärts, bis er eine Ecke erreichte und der Boden eben wurde. Er wandte sich nach rechts und stieß schließlich auf ein großes offenes hölzernes Tor. Er ging hindurch und ließ die Stadt hinter sich zurück.
    Vor ihm zog sich ein riesiger Garten den Hang hinauf, den er gerade heruntergekommen war. Von hier betrachtet sahen die schiefen Häuschen des Slums aus wie eine Zeichnung von Escher, eine, die durch ein Erdbeben, eine Schlammlawine, ebenso leicht verwischt werden konnte wie nasse Tinte auf Papier. Das Gewirr der Hügelflanke brach sich an der hinteren Mauer des Gartens, die eine absolut andere Landschaft begrenzte, eine, die von Symmetrie, Ordnung, Geometrie geprägt war. Schnurgerade Wege zogen sich die abgestuften Terrassen des Gartens hinauf, ein schnurgerader Kanal floss auf Mo zu. Bäume – Mandeln, Kirschen, Nuss und Granatapfel – zogen sich in ordentlichen baumschulenartigen Reihen zur Seite hin.
    Eine Informationstafel des Ministeriums für Tourismus teilte ihm mit, wo er war: im Bagh-e-Babur, Baburs Garten, geschaffen 1526 vom ersten Mogulkaiser, der auch hier begraben lag. Der Garten, während des Bürgerkriegs

Weitere Kostenlose Bücher