Der Amokläufer
allein in diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal der Gentlemen – daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen vor mir selbst: nun aber war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das reiche, das unsäglichgewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche – wie soll ich es anders nennen – das Wahre, das Unverstellte des Lebens in mir keimen, ich fühlte – fast schäme ich mich, solch ein Wort hinzuschreiben – wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder blühte , wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich im Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im klaren Licht eines Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden müßiger Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.
Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief – offenbar hatte ich seinen ersten Gruß übersehen – meinen Namen. Unwirsch fuhr ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt. Mit einemmal durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich grüßt, hat jetzt zum erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen, sobald er dein Vergehen kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte dich aus diesem Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen Existenz, und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt hinter vergitterten Fenstern, zumAbhub des Lebens, zu den andern Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst am Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt sie den Herzschlag an – dann verwandelte auch dieser Gedanke sich wieder in heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte. Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch schon ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus eurer kalten knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos funktionierendes, in der großen Maschine, die kalt in ihren Kolben abrollt und eitel um sich selber kreist – ich bin in eine Tiefe gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin lebendiger gewesen in dieser einen Stunde als in den gläsernen Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem Geheimnis!
Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes ich, ein elegant
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