Der Amokläufer
peinlich aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal in meine überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern die ganze Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein Gentleman, ein Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier, hochgeachtet, hatte ohne Not gefundenes Geld an mich genommen, in die Brieftasche gesteckt, ja dies sogar mit einer gierigen Freude, einer Lust getan, die jede Entschuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor einer Stunde noch ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: »Dieb! Dieb! Dieb! Dieb!«Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß ich, daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines Gefühls, jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir ja mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines Empfindens bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein Psychologe das logisch zu schildern vermöchte. Ich kann nur die Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten Aufleuchten nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«. Dann kam ein ganz merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein Augenblick, wo nichts geschah, wo ich nur – ach, wie schwer ist es, dies auszudrücken – wo ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich angerufen, hatte mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte antworten. Ich horchte also, und es geschah – nichts. Der Peitschenschlag dieses Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham, weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich dann gewissermaßen noch näher über mich selbst – denn ich spürte zu wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte – und horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschahwiederum nichts. Nichts antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich – in einem grellen Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre – erkannte ich, daß ich mich nur schämen wollte , aber nicht schämte, ja, daß ich in jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser törichten Tat.
Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte – das war Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls, glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen, der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Türwar aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und langsam – während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte – stieg ich, Stufe um Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich
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