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Der Amokläufer

Der Amokläufer

Titel: Der Amokläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Straßenkehrer, der verdrossen die verlassene Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach irgendeiner Gasse fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm einen Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er ihn endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür«, und ging weiter. Immer sah ich nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da niemand kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich einen Schein, zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene Luke einer Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von Staunen, Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf ich sie einzeln und zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf ihrem Weg entdecken würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in dieser Nacht mich selber entdeckt.
    Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die Banknoten und schließlich auch meinSilbergeld. Es war irgendein Taumel in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr Leben und das meine ganz das gleiche waren, eben das große, das gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte Leben, das nur die Liebe begreift, nur der Hingegebene umfaßt.
    Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich, selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu meinen Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm, was diese Nacht so schön gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, fühllose, weltabgelöste Gentleman von gestern und einst, lieber hinabstürzen in alle Tiefen des Verbrechens und des Grauens, aber doch in die Wirklichkeit des Lebens! Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete ich mich, der Schlaf möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße, das Glühende, das Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mitseinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.
    Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt, ich blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit von damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen verlor, ins Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen Abgrund den Taumel der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des ganzen Lebens berauscht gemengt empfand, – diese fliegende Hitze, sie freilich ist dahin, aber ich spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes Blut mit jedem Atemzuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des Lebens. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen Sinnen, anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seitdem verbiete ich mir nichts mehr, weil ich die Normen und Formen meiner Gesellschaft als wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor andern noch vor mir selbst. Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben plötzlich einen kalten, blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne Grauen gar nicht auszusprechen. Ich lebe,indem

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