Der Amokläufer
ich mich leben lasse von der Macht, die ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt, frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein, was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft lebt, der sein Schicksal als ein Geheimnis lebt .
Nie aber habe ich – dessen bin ich gewiß – das Leben inbrünstiger geliebt, und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige, das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgendeine seiner Formen und Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe ich unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen vor einer Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes mich begeistern. Ich achte mit einemmal auf alles, nichts ist mir gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf Vergnügungen und Auktionen durchblätterte) täglich hundert Dinge, die mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich auf. Und das merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen auch außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein Diener, den ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares. Und diese Verwandlung scheint – obzwar ich, um mich nicht zu verraten, mein Leben innerhalb der Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze – allmählich transparent zuwerden. Manche Menschen sind mit einemmal herzlich mit mir, zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde auf der Straße zu. Und Freunde sagen mir wie zu einem, der eine Krankheit überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fänden mich verjüngt.
Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint, alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn – er ist der erste, der mich beglückt, der erste, der mir das Blut gewärmt und mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner Erweckung hier aufzeichne, so tue ich es doch nur für mich allein, der all dies tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen vermögen. Gesprochen habe ich zu keinem Freunde davon; sie ahnten nie, wie abgestorben ich schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie blühend ich nun bin. Und sollte mitten in dies mein lebendiges Leben der Tod fahren und diese Zeilen je in eines andern Hände fallen, so schreckt und quält mich diese Möglichkeit durchaus nicht. Denn wem die Magie einer solchen Stunde nie bewußt geworden, wird ebensowenig verstehen, als ich es selbst vor einem halben Jahre hätte verstehen können, daß ein paar dermaßen flüchtige und scheinbar kaum verbundene Episoden eines einzigen Abends ein schon verloschenes Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich nicht.Wer aber um das Verbundene weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen.
Brief einer Unbekannten
Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog, erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste, besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und nicht weh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seiten der Zeitung und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung
. Der Diener meldete aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telephonanrufe und überbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lässig sah er den Einlauf an, riß ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzüge trug und zu umfangreich schien, schob er zunächst beiseite. Inzwischen war der Tee
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