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Der Amokläufer

Der Amokläufer

Titel: Der Amokläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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es da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der Verbrecher aus Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in mein unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst, mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.
    Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«
    Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend: »Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht.«
    Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich ihnen Geld bieten würde.
    Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß, was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch länger quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang mich rasch, ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser beiden endlich erlösen mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu spielen, bat sie um Mitleid, sie möchten schweigen, mich nicht unglücklich machen. Ich merkte, wie sie verlegen wurden, diese armen Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher zwischen uns stand.
    Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nach dem sie so lange lechzten. »Ich ... ich gebe Ihnen ... hundert Kronen.«
    Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie nicht mehr erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. Endlich faßte sich der eine, der pockennarbige mit dem unruhigen Blick. Zweimal setzte er an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. Dann sagte er – und ich spürte, wie er sich schämte dabei: »Zweihundert Kronen.«
    »Aber hörts auf«, mengte sich jetzt plötzlich das Mädchen ein. »Ihr könnts froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja gar nix getan, kaum daß er mich angerührt hat. Das ist wirklich zu stark.«
    Wirklich erbittert schrie sie's ihnen entgegen. Und mir klang das Herz. Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus dem Gemeinen stieg Güte, irgendein dunkles Begehren nach Gerechtigkeit aus einer Erpressung. Wie das wohltat, wie das Antwort gab auf den Aufschwall in mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen mit den Menschen, nicht sie quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: genug! genug!
    »Gut, also zweihundert Kronen.«
    Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz langsam, ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff hätten sie mir sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. Ich blätterte die beiden Noten aus dem gestohlenen pack und reichte sie dem einen hin.
    »Danke schön«, sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg. Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham – oh, alles fühlte ich ja in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! – bedrückte mich. Ich wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der ich seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie er. Seine Demütigung quälte mich, und ich wollte sie ihm wegnehmen. So wehrte ich seinem Dank.
    »Ich habe Ihnen zu danken«, sagte ich und wunderte mich selbst, wieviel wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. »Wenn Sie mich angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich erschießen müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser so.

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