Der andere Tod
nicht.«
Wir unterhielten uns mehrere Stunden lang. Er gab mir ein ausführliches Update über sein Leben, über unsere Freundschaft sowie darüber, was in den Jahren, seitdem wir uns aus den Augen verloren hatten, geschehen war. Jaro war Inhaber und Geschäftsführer eines Recyclingunternehmens in der tschechischen Provinz. Einer, der nach der Wende auf die richtigen Pferde gesetzt und ein kleines Vermögen erwirtschaftet hatte.
Jaro und ich, wir hatten uns vor fünf Jahren im Four Seasons beim Frühstück kennengelernt. Wir waren ins Gespräch gekommen, weil wir beide nach einer Wohnung in der Prager Altstadt gesucht hatten.
Jaro wollte seine lebenslustige Frau Zuzana zufriedenstellen. Sie war in Prag aufgewachsen, eine Städterin durch und durch. Nur Jaro zuliebe war sie in das Provinznest gezogen, in dem Jaros Unternehmen seinen Sitz hat. Zuzana wäre dort jedoch vor Langeweile fast umgekommen. Sie hatte es in all den Jahren nicht geschafft, sich eine Beschäftigung zuzulegen, die sie dort, in der Provinz, hätte pflegen können. So hatten sie entschieden, eine Wohnung in der Nähe der Karlsbrücke zu kaufen, um dort, wann immer es ging, die Wochenenden zu verbringen. Und so unterhielten sie ein Abonnement für die Staatsoper und das Rudolfinum, bestellten regelmäßig einen Tisch im Pálffy Palác, um – wie Zuzana es ausdrückte – nicht vollkommen zu verbauern.
Vor diesem Hintergrund hatten sich unser beider Wege gekreuzt. Wir hatten gemeinsam nach einem Apartment gesucht, und das angenehmerweise, ohne uns Konkurrenz zu machen. Denn Jaro und Zuzana hatten weitaus luxuriösere Ansprüche als Anouk und ich.
Anouk reagierte verhalten auf Jaros Einladung. Sie war besorgt. Ich glaube, sie ahnte, dass ich mich an nichts von dem, was er erzählt hatte, erinnerte. Und auch nicht an Jaro selbst.
»Ich befürchte, dass es dir zu viel werden könnte. Lass es langsam angehen.«
Ich zog sie an mich, umfasste ihre Taille und sah ihr ins Gesicht. »Du bist besorgt. Das gefällt mir … So weiß ich, dass du mich liebst.«
»Das weißt du doch sowieso.« Sie versuchte, sich aus meiner Umarmung zu winden.
Ich hielt sie fest und sagte: »Ich mag Jaro. Ich freue mich, ihn wieder getroffen zu haben. Und außerdem: Ist es nicht Zeit, wieder unter Menschen zu gehen … unter
Freunde
?«
Anouk zögerte. Ein weicher Ausdruck glitt über ihr Gesicht. »Ja, natürlich musst … sollst du wieder in Gesellschaft. Aber …«
»Ich würde die Einladung wirklich gerne annehmen. Durch das Gespräch mit Jaro ist mir klar geworden, dass es nichts gibt,
geben darf,
wovor ich mich fürchten müsste.«
Erst viel später sollte ich erkennen, wie sehr ich mich in diesem Punkt geirrt hatte.
Zuzana war ein freundliches und argloses Geschöpf, das im Leben hauptsächlich damit beschäftigt schien, die Hülle straff zu halten. Als ich ihre Hand schüttelte und sie sich ehrlich zu freuen schien, war ich überrascht darüber, wie jung sie war. Später, nachdem wir in alten Fotos von ihr und Jaro geblättert hatten, erkannte ich, dass sie selbst die Zeit angehalten hatte.
Sie war ein Goldköpfchen, mit vollen Lippen und einem Körper, der wahrscheinlich auch das Skalpell von westlichen Chirurgen und die Möglichkeiten moderner Silikon-Implantate kennengelernt hatte. Sie musste Anfang vierzig sein, und doch war ihre Haut völlig faltenfrei, ein wenig zu glatt, und ihre Lippen und Brüste waren ein wenig zu prall.
»Ich freu mich soo, euch wiederzusehen«, rief Zuzana mit entwaffnender Herzlichkeit, als sie die Tür öffnete. Sie umarmte zuerst mich, dann Anouk. Ich weiß noch, wie gegensätzlich die beiden mir in diesem Moment vorkamen: Zuzana mit starkem Make-up, breitem Lachen und diesemkehligen Akzent. Anouk hingegen von einer spröden und einsamen Schönheit.
Wir traten ein. Unsere Schritte knarzten auf einem wunderschönen Parkett mit Einlegearbeiten, es roch stark nach Blumenpotpourri, so wie es manchmal in den Toilettenräumen edler Hotels riecht. Jaro kam uns aus dem Wohnzimmer entgegen, auch er lächelte sehr breit, sehr entwaffnend. Ich freute mich, ihn zu sehen.
Wir saßen uns gegenüber, Jaro und Zuzana auf der einen Seite, Anouk und ich auf der anderen. Zuzana war damit beschäftigt, den Tomaten-Mozzarella-Salat zu verteilen, Jaro schenkte Mineralwasser ein. Dann bot er Anouk von dem Weißwein an. Ich beobachtete von der Seite, wie sie Jaro das Glas entgegenhielt.
Irgendwie wirkten Anouks Züge
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