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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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befand sich eine Sitzecke aus dunkelbraunem Leder. Der Stil ähnelte meinem Prager Arbeitszimmer.
    Ich ließ mich hinter dem Schreibtisch nieder. Diese Ernüchterung musste ich erst einmal verdauen. Ich erkannte rein gar nichts wieder.
     
    Während meiner mehr als zweijährigen Abwesenheit waren die Geschäfte einfach ohne mich weitergelaufen. Der Vertrieb hatte weiterhin Aufträge akquiriert und abgewickelt, die Mitarbeiter hatten weiterhin Software entwickelt, Elektronik ausgelegt, Kabinen zusammengebaut, Instrumententafeln montiert, Bewegungssysteme installiert. Die Gehälter waren weiterhin geflossen    … Am Morgen wurde das Licht eingeschaltet, es wurde gearbeitet, am Abend wurde das Licht wieder ausgeschaltet. Ein ewiger Kreislauf. Ohne mich.
    Wolf Wenzlow, Prokurist, Ingenieur und mein Stellvertreter, hatte meinen Platz eingenommen und alles hatte ohne mich genauso funktioniert wie zuvor mit mir.
     
    Auf dem Weg zu Wenzlows Büro versuchte ich mich zu erinnern, wer mir gleich entgegentreten würde. Aber so sehr ich mich auch bemühte, Wenzlows Gesicht blieb zweidimensional wie das Foto von ihm, das Anouk mir gezeigt hatte. Ich sah eine untersetzte Gestalt vor meinem inneren Auge. Wenzlow hatte auf dem Foto gerade eine Rede auf einer Betriebsfeier gehalten. Am auffälligsten an ihm waren wohl seine breiten Schultern und das kurzgeschorene Haar mit tiefen Geheimratsecken.
    Ich durchquerte das Vorzimmer zu Wenzlows Büro. Seine Sekretärin war entweder im Urlaub oder gerade unterwegs. Ich klopfte. Auf sein »Herein« hin öffnete ich die Tür.
    Einen Moment lang blickten wir uns an. Er schien fassungslos. Ich hingegen war erleichtert, dass das Gesicht auf dem Foto deckungsgleich war mit dem des Mannes, der nun vor mir stand.
    Wenzlow erhob sich langsam und trat mir entgegen, noch immer schweigend. Ich wusste, dass nicht nur meinGesicht anders geworden war – wenngleich sie es, den Fotos nach zu urteilen, gut hingekriegt hatten. Auch mein Körper musste sich verändert haben. Ich dachte an die Fotos, die Anouk mir gezeigt hatte. Damals hatte ich einige Kilo mehr auf die Waage gebracht. Jetzt war ich ziemlich hager. Aber mein Gesicht hatte sich offensichtlich am stärksten verändert. Es lag an der tiefen v-förmigen Narbe, die meine rechte Wange wie ein geheimnisvolles Zeichen prägte und sich quer durch die Augenbraue schnitt. Außerdem waren fast überall Spuren der Gewebetransplantationen zu sehen.
    Wenzlow drückte mir die Hand, räusperte sich und murmelte: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin froh, dass es Ihnen wieder gut geht.« Er hielt kurz inne und legte den Kopf schief. »Es geht Ihnen doch gut?«
    Ich nickte und deutete auf mein Gesicht: »Ich bin wie neu.«
    Wenzlow ließ ein vorsichtiges Lächeln erkennen.
    Wir standen eine Weile lang verlegen herum. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Wenn ich je die Fähigkeit der leichten Konversation beherrscht hatte, so war sie mir in letzter Zeit völlig abhanden gekommen. Wenzlow sah ebenfalls nicht so aus, als sei er ein Meister des Small Talk. Auch schien er nicht zu wissen, wohin mit seinen Armen.
    Irgendwann ließ er ein tonloses »Naja« verlauten. Dann wandte er sich um und zeigte auf die Papiere, die sich auf seinen beiden Schreibtischen und auf sämtlichen Fensterbänken stapelten. »Ich habe den Laden so weitergeführt, wie ich glaubte, dass Sie es gewollt hätten. Nach dem Brand hat Ihre Frau mich ja dann angerufen und gesagt, es wäre nicht klar, wann Sie wiederkämen … oder ob überhaupt. Bis zu einer endgültigen Entscheidung sollte alles solaufen wie immer. Und das hab ich dann gemacht … den Laden am Laufen gehalten.«
    Ich lächelte ihm zu. Es sollte beruhigend wirken, kam aber wohl etwas schräg bei ihm an, denn jetzt wirkte er noch unsicherer. Ich musste das Ruder an mich reißen: »Na, dann wollen wir mal. Ich fürchte, Sie werden mir ein umfassendes Update geben müssen.«
    Er ging hinüber zu seinem Computertisch und setzte sich. Ich nahm ihm gegenüber Platz. Er blätterte in seinem  Kalender zurück bis zu dem Tag vor dem großen Feuer.
    »Hm    … tja    … Wir hatten damals gerade den zweiten Simulator an Trenitalia geliefert und waren dabei, die Einrichtarbeiten vorzunehmen und die Abnahme vorzubereiten    … im Dezember vor dem Brand. Und Sie waren – wie immer zwischen den Jahren – mit Inventur beschäftigt. Zusammen mit Müller. So auch am Tag des Brandes.«
    Müller
. Ich kannte keinen

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