Der andere Tod
Müller. Nichts regte sich, es gab kein Anzeichen von Vertrautheit. Stattdessen erschien vor meinem inneren Auge wieder das Feuer, der Rauch. Ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug, wie meine Hände zuckten.
Aus weiter Ferne drang Wenzlows Stimme an mein Ohr: »… diese Probleme mit dem Simulatorraum. Die Italiener waren noch im Rohbau, Bodenbeläge, Elektrik, Malerarbeiten – nichts war fertig, obwohl wir in einer Woche liefern sollten. Wir wollten das Projekt zu Ende bringen, natürlich auch, um den Zahlungsmeilenstein zu erreichen. Sie haben damals viel herumtelefoniert, auf Englisch. Aber dann gab’s Verständigungsschwierigkeiten und Sie schalteten einen Dolmetscher ein.«
Ich nickte. Wenzlow runzelte die Stirn und starrte vorsich hin auf den Boden. Er schien persönlich berührt, als er anfügte: »Und dann gab’s ja zu dieser Zeit noch diese Schwierigkeiten mit einem unserer wichtigsten Männer. Urplötzlich hatte er uns seine Kündigung auf den Tisch geknallt.«
Wieder nickte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, von wem er sprach. Vielleicht würde mein Nicken ihn zum Weitersprechen animieren?
Wenzlow schluckte und fasste sich schnell wieder. »Sei’s drum. Jedenfalls hatte er sich den schlechtesten Zeitpunkt für einen Weggang ausgesucht. Er wusste doch, dass wir dringend das Sichtsystem für die Werksabnahme fertigbekommen mussten. Und da blieb die ganze Sache allein an Hoffmann hängen.«
»Hat Hoffmann denn das schaffen können, so plötzlich die Arbeit von zwei Leuten zu machen?«
Wenzlow hob den Kopf. »Ich sage Ihnen, der hat diese Firma in den ersten Wochen nicht mehr verlassen, so war das! Der hat sich total reingekniet und dann ging’s schon irgendwie. Von dieser Sorte bräuchte man noch ein paar Leute mehr. Obwohl – unser Team ist nach wie vor hoch motiviert.« Wenzlow machte eine bedeutungsvolle Pause. Er schien stolz auf seine Arbeit zu sein. Dann seufzte er: »Ja, ja, so war das damals alles. Aber die Sache mit der Kündigung war schon rein persönlich gesehen enttäuschend für mich. Dass einer so gar kein Zugehörigkeitsgefühl hat … ›Corporate Identity‹ nennen sie das doch heutzutage …«
»Na ja, aber irgendwie kann man das doch auch verstehen, wenn einer mal was anderes machen will.«
Wenzlow sah mich überrascht an. »Also, Sie sind ja inzwischen viel milder geworden. Wenn ich da an früher denke … Aber egal. Es war mehr die Art, wie das abgelaufenist, die mich irritiert hat. Er hätte ja vorher mal ein Wort sagen können.«
Ich wollte mich nicht in die Geschichte vertiefen und wechselte das Thema. »Und wie ist die Sache mit den Italienern ausgegangen?«
»Das Ganze hat sich um zwei Monate verzögert. Ich bin dann selbst noch mal hingefahren, um das Prozedere zu beschleunigen.«
Ich zögerte.
Wie sollte ich jetzt bloß endlich die Rede auf das Wesentliche, das Eigentliche bringen, auf das, was mir wirklich am Herzen lag? Ich wollte mich dabei ja nicht völlig entblößen.
»Herr Wenzlow, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Am besten wahrscheinlich direkt: Ich leide unter partieller Amnesie. Ich kann mich an manches schlichtweg nicht erinnern.«
Wenzlow sah mich betreten an. »Das … muss schlimm sein.«
»Na ja … Ich brauche in der nächsten Zeit vielleicht ein wenig Ihre Hilfe.«
Wenzlow setzte zu sprechen an, doch ich hob die Hand.
»Was mich im Moment beschäftigt – ähm, das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich gerade erst zurückgekehrt bin –, nun, das ist der Tag des Brandes. Ich war also zwischen Weihnachten und Dreikönig in der Firma, um Inventur zu machen, richtig? War das denn … üblich?«
Wenzlow nickte. Dann lächelte er zweideutig. »Sie waren praktisch
ständig
in der Firma. Jedenfalls mehr
in
der Firma als außerhalb. Ja. Und Sie haben mit dem Müller aus der Buchhaltung alles durchgesehen.«
»Aha. Und dieser Mann, der Obdachlose …«
»Giaconuzzi.«
»Dieser Giaconuzzi hatte sich bei uns ein Nachtlager eingerichtet?«
»Ja.«
»Und das nicht zum ersten Mal?«
»Nein, der Wachdienst hatte ihn auch vorher schon zwei-, dreimal aufgegriffen.«
»Aber wieso hat er sich ausgerechnet unser Gelände ausgesucht?«
»Der war früher mal bei uns gewesen, als Hilfsarbeiter. Dann hat Lemberg ihn entlassen. Alkoholprobleme.«
»Und warum ist er immer wieder zum Übernachten gekommen?«
»Na, ich nehme an, weil er sich eben bei uns auskannte. An jenem speziellen Tag war’s sicherlich auch die
Weitere Kostenlose Bücher