Der andere Tod
her: »So bleiben Sie doch, warten Sie! Das hat wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten!«
Ich spürte eine Hand, die mich am Arm berührte, Finger, die sich darum schlossen, neben mir plumpsten ein paar Bücher zu Boden. Dann erklang ein blechernes Scheppern, eine Tür schlug zu und draußen umfing mich die Hitze wie ein bleierner Mantel.
Irgendwie musste ich es auf die Autobahn geschafft haben, denn ich erinnere mich an das Vorüberrasen der Bäume, an andere Wagen, die ich rechts hinter mir ließ, immer wieder andere. Im Nachhinein betrachtet war es ein Wunder, dass ich nicht in die Fänge der Schweizer Polizei geriet oder dass die Beamten an der Grenze zu Österreich nicht schon vorgewarnt waren. Aber da war niemand, der mich aufgehalten hätte. Der Schweizer Grenzbeamte sah mich noch nicht einmal an und der Österreicher winkte mich mit einer müden Geste weiter.
Irgendwo auf einem Parkplatz vor Bregenz hielt ich an. Die Schlaflosigkeit der letzten Nacht saß mir in den Knochen.Es war mir unmöglich, auch nur noch einen Meter weiter zu fahren. Ich nickte an Ort und Stelle ein.
Es dämmerte bereits, als ein Geräusch mich aufweckte und ich erschrocken bemerkte, wo ich überhaupt war. Ich blinzelte benommen, ließ die Scheiben herunter und startete den Motor.
Laue, süße Sommerluft wehte zu mir herein. Über den Feldern lag eine Abendstimmung, wie sie schöner nicht hätte sein können. Der Duft von frisch gewendetem Heu ließ eine unbestimmte Sehnsucht in mir aufkommen.
Aber gleich würde ich Anouk gegenüberstehen. Ich würde in ihre Augen sehen und mich fragen, ob das die Augen einer Frau waren, die mich betrogen hatte. Ich würde sie ansehen, ihr Gesicht, ihre Lippen, den kleinen Leberfleck auf ihrem Jochbein, ihre Brüste, die sich unter ihrem Oberteil abzeichneten. Und ich würde mich fragen, ob es wahr war: ob diese Lippen einen anderen geküsst hatten, ob diese Arme einen anderen umschlungen hatten, ob dieser Körper einen anderen empfangen hatte, ob diese Frau in der Umarmung eines anderen versunken war.
Wie würde ich ihr gegenübertreten? Konnte ich ihr gegenüberstehen, ohne sie anzuschreien?
Ich spürte eine heiße Wut in mir, die alle anderen Gefühle unter sich erstickte. Ein Racheengel breitete seine Flügel aus, um Anouk ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aber was
war
ihre gerechte Strafe? Und vielleicht stimmte das ja alles auch gar nicht?
Ich wurde unsicher. Konnte, durfte ich den lallend hervorgebrachten Behauptungen eines Alkoholikers Glauben schenken? Noch dazu, wenn diese aus zweiter Hand kamen und die »zweite Hand« in dem Fall einem ehemaligen Junkie gehörte?
Zählte nicht vielmehr der Eindruck, den ich selbst vonAnouk und ihren Gefühlen mir gegenüber hatte? Seit dem Brand war ja auch so unendlich viel geschehen. Wie hatte sie sich um mich gekümmert, wie hatte sie an meinem Bett gesessen, Tag um Tag, mich gestützt, um meine Beine wieder zum Gehen zu bringen. Sie hatte mir vorgelesen, Stunde um Stunde, Nachmittage lang. Sie hatte mich gefüttert, als meine beiden Arme im Gips waren, mich gestreichelt. Ich hatte ihre Liebe gespürt.
Und selbst wenn es so gewesen sein sollte – wenn wir uns vor dem Brand fremder gewesen waren als jetzt; wenn ein anderer Mann dabei gewesen war, unsere Ehe zu unterminieren –, so war es doch Vergangenheit.
Und wenn es so gewesen sein sollte, dass ich Anouk – unter Alkohol – geschlagen hatte, so war sie doch bei mir geblieben, all die Jahre, und der Brand war ein Ende und ein Neubeginn zugleich gewesen. Jedenfalls hatten wir in den Jahren nach dem Brand eine unglaubliche Nähe erfahren. Sollte ich das alles nun zerstören?
Doch dann trat meine Beobachtung vom vergangenen Tag wie ein Schatten aus einem dunklen Winkel hervor und plötzlich passte alles. Anouk war zu ihrem Liebhaber unterwegs gewesen, zu einem romantischen Stelldichein zwischen der Gartenarbeit und dem Abendessen. Sie hatte die Beziehung zu diesem Mann wieder aufgenommen, nach über zwei Jahren, sie hatte unseren Neubeginn verraten, das, was ich für unzertrennlich gehalten hatte, getrennt, mit einer Leichtigkeit, die mich erschaudern ließ. Und wenn dem so war, dann, ja, was dann? Trennung? Scheidung? Ein Leben ohne Anouk? Wie konnte ich ohne sie leben?
Ein sauberer Schnitt, sagte man nicht so? Doch was hätte ich letztendlich davon, dass er sauber wäre? All das Elend, all die Einsamkeit an den Sonntagen ohne Anouk! Sollteich um sie kämpfen? Ich war mir nicht sicher,
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