Der andere Tod
er derartige Geschichten jeden Tag.
Ich holte tief Luft. »Die Sache lässt mir einfach keine Ruhe. Und nun bin ich dabei, na sagen wir mal, das Traumaaufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang habe ich mir noch einmal die Polizeiakten vorgenommen.«
Es war, als würde in Hürlis Gesicht ein Vorhang fallen. Mit einem Mal wirkte er wachsam, ja distanziert.
»Und da wollten Sie sich diesen Junkie, dieses hirntote Wrack, das damals solche Behauptungen aufgestellt hat, einmal persönlich vorknöpfen?«
Er sah wohl meinem Blick an, was ich von dieser letzten Bemerkung hielt, und so lächelte er wieder und fügte erklärend hinzu: »Die haben mich damals behandelt wie Dreck. Aber irgendwie …« Er zuckte mit den Achseln.
»Hören Sie!« Ich beugte mich vor. »Ich wäre nicht gekommen, wenn es für mich nicht wichtig wäre. Ich wäre nicht gekommen, wenn ich mit den Ansichten der Polizisten konform ginge. Aber es gibt da Dinge … aus meiner Vergangenheit … Verstehen Sie, ich habe Lücken in meinem Gedächtnis …«
»Und nun sind Sie gekommen und wollen meine Mosaiksteine haben, nicht wahr?«
Ich musste ihn verblüfft angesehen haben. Seine Ausdrucksweise war gewöhnungsbedürftig, geradezu kryptisch. Hürli deutete auf meinen Tee, der noch unberührt dastand, und forderte mich auf: »Trinken Sie! Es hilft Ihnen, Ihre Gedanken einzusammeln.«
Der Tee war inzwischen nurmehr lauwarm. Ich trank ihn in einem Zuge aus und Hürli schenkte uns beiden noch einmal nach. Dann nahm er eine gestopfte Pfeife zur Hand, steckte sie zwischen die Zähne, zündete sie aber nicht an. Ich fragte: »Brauchen Sie Feuer? Leider habe ich keines …«
Er lächelte. »Ich auch nicht. Nicht mehr. Ist eine Marotte von mir. Ich gestehe mir in Gedanken die Freiheit zu, sie jederzeit anzuzünden, tue es dann aber doch nicht. Bisjetzt.« Er zog an der kalten Pfeife. Unvermittelt fragte er: »Und Ihrer Frau, wie geht es der?«
Ich stutzte, doch dann antwortete ich: »Gut, sie ist bei dem Brand nur leicht verletzt worden.«
Wieder nickte er und sah dabei aus, als habe er diese, und genau diese Antwort erwartet. Er strahlte die ruhige Gewissheit eines Menschen aus, der langsam oder gar nicht urteilt. Der die anderen machen lässt, weil sie ohnehin ihren Weg gehen werden.
Dann fragte er: »Was möchten Sie von mir wissen, Herr Winther?«
»Also …« Ich stockte, atmete tief ein und ließ meinen Blick über die vergilbten Buchrücken gleiten. »Ich weiß ja auch nicht. Ich nehme an, es gibt nicht viel Neues, was Sie mir sagen könnten. Im Prinzip wollte ich nur noch einmal von Ihnen … persönlich hören, was Sie damals schon zu Protokoll gegeben haben.«
Sein Mienenspiel blieb rätselhaft und wie man bei einem Buch in schlichtem Einband nicht ahnen konnte, was es barg, konnte auch ich nicht erkennen, welche Gedanken sich hinter Justus Hürlis Stirn bewegten. Ich fuhr fort: »Sie sagten damals, dass der Tote Ihrer Meinung nach nicht Giaconuzzi war.«
»Dieser Meinung bin ich immer noch.« Er sah mich fest an. Ich hielt es für fast unmöglich, dass dieser Mann, der solch eine Sicherheit, ja Gewissheit ausstrahlte, phantasierte. Weder jetzt noch damals. Ich wartete darauf, dass er sich in irgendeiner Weise rechtfertigen würde, doch er sagte nichts. Also hakte ich nach: »Bitte erzählen Sie mir alles.«
Hürli nuckelte wieder an seiner kalten Pfeife und sah mich weiterhin schweigend an, als grüble er – ja, worüber? Schließlich fragte er lakonisch: »Wieso?«
Es war ein Geduldsspiel. Dieser Mann war eine harte Nuss. Als er immer noch nicht reagierte, fuhr ich ihn an: »Nun erzählen Sie mir’s endlich! Was ist denn schon dabei, meine Güte!«
Heißer Zorn stieg in mir auf – eine kaum zu bändigende Wut, gepaart mit der Verzweiflung darüber, dass ein Teil meines Gedächtnisses für mich nicht mehr zugänglich war. Am liebsten hätte ich Hürli am Schlafittchen gepackt und das bisschen, was er wusste, aus ihm herausgeschüttelt. Warum musste er mich so hinhalten? Er würde doch ohnehin nur wiederholen, was im Polizeiprotokoll stand. Ich krampfte meine Finger um die Tischplatte, starrte auf meine Hände, weil
er
auf meine Hände blickte, und sah, dass die Adern an den Handgelenken wie blaue Schnüre hervortraten.
Wieder völlig unvermittelt fragte er: »In der Zeitung habe ich gelesen, dass Sie in einer Spezialklinik in den USA behandelt wurden. War Ihre Frau auch dort?«
Ich wischte seine Frage mit einem trotzigen »Ja«
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