Der andere Tod
Barbaras Party einfach vergessen.
Ich schlug mit der flachen Hand gegen meine Stirn. Wie dumm! Aber diese dämliche Fete hatte jetzt gerade noch gefehlt. So, wie wir uns im Augenblick fühlten, konnten wir keinesfalls auf ein Fest gehen.
Ich trottete zum Telefon und fragte Anouk nach Barbaras Nummer.
Anouk zögerte. »Was wirst du ihr sagen?«
»Dass wir krank sind. Eine Sommergrippe.«
»Das kannst du nicht machen.«
»Warum nicht?«
»Weil sie … sie hat wochenlang auf diese Party hingearbeitet.«
»Es tut mir ja auch leid. Aber du siehst wirklich nicht so aus, als ob du jetzt unter Leute gehen könntest.«
Anouk schwieg. Sie war noch immer blass, verschwitzt, fast ein wenig verhärmt. Wir würden nicht gehen. Wir
mussten
hierbleiben und uns beruhigen, soviel war klar. Zumindest für mich.
Dann hörte ich sie mit erstaunlich gefasster Stimme sagen: »Das können wir wirklich nicht machen. Wir müssen hingehen.«
Ich war sprachlos.
Sprachlos ob der Klarheit, mit der sie sich plötzlich wieder artikulierte. Ob der Entschiedenheit, die in ihrem Tonfall mitschwang.
Sie rieb sich über das Gesicht, küsste mich, stand auf, streckte eine Hand nach mir aus und sagte: »Komm. Wir sind doch zusammen. Gemeinsam schaffen wir das.«
Die Fahrt zum Haus von Barbara und Karl dauerte nur wenige Minuten. Es waren quälende Minuten, in denen ich mir das Gehirn zermarterte. Was würde mich erwarten? Und woher hatte Anouk die Kraft genommen, plötzlich wieder aufzustehen?
Ich fühlte mich wie ein Schauspieler, der in ein fremdes Stück gesteckt wird, auf eine fremde Bühne, wohl wissend, dass der Vorhang sich gleich heben und er hilflos auf dieser Bühne stehen würde.
Doch ich konnte jetzt nicht mehr aussteigen. Der Wagenrollte unaufhaltsam weiter. Ich hatte bei unserem überstürzten Aufbruch natürlich keinerlei Zeit mehr gehabt, mich noch einmal mit den Steckbriefen zu beschäftigen. So hoffte ich inständig, trotz aller Widrigkeiten der vergangenen Tage und Stunden in der Lage zu sein, mich an all die Details zu den einzelnen Personen erinnern zu können.
Links und rechts der Straße reihten sich parkende BMW, Porsche, Mercedes und Range Rover.
Anouk sagte tonlos: »Hier sind wir«, und bog um die letzte Kurve.
Ich war mehr als verkrampft. Nervös wischte ich mir die Handflächen an meiner Hose ab, doch es nützte nichts. Sie waren feucht und blieben es auch, feucht und eiskalt. In meinem Hals steckte ein grauenhaft großer Kloß. Mir war schlecht. Mein Darm war in hellem Aufruhr und mein Herz hämmerte so verrückt gegen die Rippen, dass ich glaubte, es müsste zerspringen.
Warum hatte ich nur solche Angst? Da drinnen waren doch lauter Freunde. Warum konnte ich nicht einfach sagen: »Hi, hier bin ich wieder, ich brauche eure Hilfe.«
Aber schon der Anblick der PS-starken Nobelkarossen flößte mir unsäglichen Abscheu ein. Mit den Besitzern dieser sündhaft teuren Wagen wollte ich nichts zu tun haben.
Nur:
Warum schreckte mich der sichtbare Beweis ihres Wohlstands so sehr ab? Das war meine Kragenweite, all diesen Menschen konnte ich auf Augenhöhe begegnen, denn auch ich war wohlhabend. Und dennoch fühlte ich mich klein. Und unehrlich. Wie ein Hochstapler.
So standen wir denn vor Barbaras Haustür, Anouk in einem schwarzen Cocktailkleid, mit einem hauchdünnen Schal um den Hals, ich in Poloshirt und Freizeithose. Gerade, als ich meine Hand zur Klingel führen wollte, wurdedie Tür mit Schwung geöffnet. Karl stand vor uns. Ebenfalls in lässiger Freizeitkleidung, in einem Ralf-Lauren-Hemd, braungebrannt, mit zurückweichendem Haaransatz, so, als sei er eben seinem Steckbrieffoto entstiegen. Sein Lachen war breit und ließ zwei Reihen weißer Zähne aufblitzen, ein Burt Lancaster in Reinformat. Er drückte mich kurz an sich und hielt sich ansonsten daran, mir mit »alter Kumpel« auf die Schulter zu klopfen.
Zum Glück erinnerte ich mich augenblicklich daran, was ich mit Anouk trainiert hatte. Kaum dass ich Karl sah, legte sich ein imaginärer Schalter in meinem Kopf um und ich erwiderte sein »ServusHeiliCiao« mit der gewohnt zotigen Bemerkung. Meine Unsicherheit überspielte ich durch einen besonders kernigen Tonfall.
Hinter Karl tauchte Barbara auf, wieder in den obligatorischen Stilettosandalen mit Riemchen, die sich bis zum Knie hochschlangen. Ihr Kleid war diesmal rot wie die Sünde selbst und ließ tief blicken.
»Ihr Lieben!«, flötete sie zur Begrüßung. »Wo wart ihr denn so
Weitere Kostenlose Bücher