Der andere Tod
lange? Ich fürchtete schon, ihr würdet kneifen!«
Während Anouks und Barbaras Wangen sich flüchtig berührten, sagte Anouk mit einer Leichtigkeit, die mir Schauer über den Rücken jagte: »Ach, du weißt ja, wie das mit Max ist. Über der Arbeit vergisst er beinahe alles. Er hatte noch einen Termin und steckte dann im Pfändertunnel im Stau!« Ihr Lachen perlte geradezu. Unglaublich. Wie machte sie das nur? Sie wirkte unbesiegbar. Eine schöne Frau, die sich in allen Lebenslagen sicher fühlt.
»Oho, ich hatte gehofft, Max, der Workaholic, gehört endgültig der Vergangenheit an.« Das war der braungebrannte Karl.
Das Haus unserer Gastgeber war unserem gewissermaßen recht ähnlich, nur dass man es mit weitaus mehr Marmorausgestattet hatte. Insgesamt gesehen wirkte es unangenehm protzig.
Ein junger Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose kam auf uns zu, ein Tablett vor sich her balancierend. Ich griff nach einem Glas Orangensaft. Heute Abend würde ich alle mir noch zur Verfügung stehenden Gehirnzellen benötigen. Anouk nahm ein Glas Champagner. Ich bemerkte mit Befremden, wie sie es in einem Zug leerte. Sie musste meinen Blick gespürt haben, denn sie sagte, ohne mich anzusehen und ohne dass ihr das engelhafte Lächeln vom Gesicht geglitten wäre: »Wenn ich mir diesen Zirkus hier anschauen soll, ohne einen Krampf zu kriegen, dann nur durch eine Champagner-Brille. Halloo, Martha, na das ist ein Wiiiedersehen!« Die letzten Worte galten einer drallen Person in einem viel zu engen Oberteil.
Kurz darauf spürte ich, wie weiches Fleisch sich an mich drängte. Eine Stimme jauchzte: »Mäxchen, wir fürchteten, dich
niemals
wiederzusehen!«
Überall tauchten Gesichter auf, Gesichter mit lachenden Mündern, Frauen mit roten Lippen, Männer, die mir wie zuvor Karl kumpelhaft auf den Rücken klopften.
In meinem Kopf begann ein Film abzulaufen. In fieberhafter Eile rief ich Steckbriefe ab und ordnete möglichst viele Eigenschaften möglichst treffend zu. Ich war ein Rechner, der in Windeseile die passenden Namen ausspuckte. Doch dieser Rechner hatte nicht alle Daten parat und so ließ ich mich einfach umarmen, umarmte meinerseits und wurde schließlich quer durch den Raum gereicht, von Partygast zu Partygast, bis ich am Ende vor Wenzlow zum Stehen kam.
Er musterte mich mit großem Mitgefühl, aber auch einen Tick zu aufmerksam und zu eindringlich. Wir standen einander gegenüber, jeder mit einem kleinen, verlegenenLächeln auf den Lippen. Wenzlow ergriff als Erster das Wort: »Nun bin ich aber froh.«
Ich verstand sofort, was er meinte, und erwiderte: »Ich hatte heute Nachmittag etwas zu erledigen. Hat ein bisschen länger gedauert.«
»Frau Meyer hat bei Ihnen zu Hause angerufen. Ich hoffe, sie hat nicht alles in Unruhe versetzt.«
Wieweit kannte er Anouk? Ob er ahnte, was sie meinetwegen durchgemacht hatte?
Jetzt kam von irgendwoher Gläserklingeln. Es wurde schnell lauter. Dann tauchte Karl neben mir auf. Mit erhobenem Glas begann er feierlich: »Liebe Freunde! Heute ist ein ganz besonderer Anlass, zu dem wir uns hier versammelt haben – ein erfreulicher Anlass, denn wir alle haben etwas wiedergefunden. Genauer gesagt haben wir
jemanden
wiedergefunden. Ein Freund und eine Freundin, die eine schwere Zeit erleben mussten, sind zurückgekehrt, nach mehr als zwei langen Jahren, in denen sie uns gefehlt haben und in denen wir schon nicht mehr damit gerechnet hatten, dass sie wiederkehren würden. Jetzt jedoch sind sie da und ich kann nur sagen, wie glücklich wir sind, dass ihr – verlorene Freunde – zurückgekommen seid. Und so erhebe ich mit euch allen mein Glas und trinke auf das Glück, dass das Schicksal euch – Anouk und Max – gnädig gesinnt war. Ich trinke auf die frohen Stunden, die wir in der Vergangenheit miteinander verbracht haben, und auf die vielen frohen Stunden, die wir noch miteinander erleben werden. Auf euch, auf Anouk und Max!«
Karl war ein geübter Redner, ein wenig pathetisch zwar, aber seine Worte klangen fröhlich und mitreißend. Nur wurde ich das Gefühl nicht los, dass sein Lächeln unecht war. Vielleicht lag es an meiner eigenen Anspannung, an dem Bewusstsein, im Mittelpunkt zu stehen, denganzen Abend lang. Wer mich genau beobachtete, bemerkte sicherlich sofort, wie unwohl mir zumute war.
So mussten sich Dreharbeiten anfühlen. Wir waren ein perfektes Team am Set, vorneweg die Protagonisten. Dann kamen die Statisten, denen man gefärbtes Wasser in die Gläser
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