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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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nötig? Warum konnte ich nicht einfach sagen: Ich akzeptiere. Ich nehme mein Leben, mich, so an, wie ich bin, und lebe einfach drauflos, ab jetzt. Ich lassedie Vergangenheit ruhen. Mut zur Lücke – in meinem ganz speziellen Sinn.
    Es war nun einmal so: Ich konnte mein Gedächtnis nicht zwingen, sich zu erinnern. Aber
eine
Wahl hatte ich: Entweder ich würde mich weiterhin durch mein Leben jagen lassen wie durch eine Geisterbahn. Oder aber ich würde ab heute sagen: Ich steige aus, ich verlasse die Geisterbahn. Ich lasse die Skelette, die Krokodile, die nach mir schnappen, die Schreie, die an mein Ohr dringen, die Horrorbilder einfach hinter mir.
    Anouk und ich. Wir hätten alles zurücklassen können. Mit einem Umzug nach Prag wäre alles erledigt gewesen.
    Aber noch während ich mit den Möglichkeiten wie mit Bällen jonglierte, wusste ich, dass ich nichts von alledem tun würde. Ich würde mich weder der Geisterbahn entziehen noch die Schnitzeljagd aufgeben. Ganz im Gegenteil.
    Der Wanderparkplatz begann sich zu füllen. Jeder versuchte, noch einen Schattenplatz zu ergattern. Männer und Frauen in Kniebundhosen und groben Schuhen stiegen aus, schulterten ihre Rucksäcke und griffen zu den Teleskop-Wanderstöcken. Dann marschierte man los.
    Wie banal wirkte der Ernst dieser strammen Wandersleute vor meiner ausweglosen Situation. Ich hätte aussteigen und ihnen zuwinken mögen. Seht her! Ich bin Max Winther! Früher war ich wohl ein richtiges Schwein, jedenfalls habe ich meine Frau mit ihrer besten Freundin betrogen und wahrscheinlich auch krumme Geschäfte gemacht. Aber ich weiß es nicht mehr. Ich habe es
vergessen
!
    Ich sah ihnen hinterher, wie sie zielstrebig und ohne nach rechts oder links zu blicken den Wanderweg hinaufstapften. Sie würden erst innehalten, wenn sie den Berg erklommen hatten. Sie würden erst innehalten, wenn sie am Ziel waren.
    Die Sonne stand inzwischen schon recht hoch, die Windschutzscheibe wirkte wie ein Brennglas. Mir wurde warm hinter dem Steuer. Ich öffnete die Fahrertür. Die Luft war angenehm kühl und trug eine Botschaft zu mir herein. Es war, als hätte ich eine stumme Antwort auf mein inneres Gefecht erhalten, und es breitete sich fast so etwas wie Ruhe in mir aus.
    Es zeichnete sich immer deutlicher ab, was ich tun würde. Ich sah einen Weg vor mir. So, wie diese stramm-forschen Wandersleute Kehre um Kehre nahmen, würde auch ich vorankommen. Ich würde nicht eher rasten, bis ich mir sicher war, dass es nichts mehr zu erfahren gäbe, nichts mehr zu entdecken.

Der Andere
    Mit pochendem Herzen saß ich vor dem verhassten Haus Nr.   37.   In meiner Einbildung fürchtete ich, dass jeden Augenblick die Tür aufgehen und Anouk Arm in Arm mit ihrem Liebhaber über die Schwelle treten würde.
    Eine halbe Stunde oder länger musste ich so gesessen haben. Es war inzwischen unerträglich heiß im Wagen. Ich stieg aus. Nachdem ich mich eine Weile lang vor den Briefkästen des Nebenhauses herumgedrückt hatte, fasste ich endlich Mut und ging zum Eingang mit der Nummer 37.
    In dem Haus wohnten zahlreiche Parteien, die Atmosphäre war an Anonymität kaum zu überbieten. Mein Blick glitt über die Namen: »Hofer«, »Rüthli«, »S.   Mitteregger«, »Monika Leithe«, »Lewinsky«, »N. u. P.   Kleinmann«, »Ciampolat« und wie sie alle hießen. Bei jedem dieser Namen verweilte ich, jeden dieser Namen sprach ich leise und langsam vor mich hin. Ich lauschte ihrem Klang nach, horchte in mich hinein. Meine Augen scannten die Buchstaben und blieben letztlich an »Lewinsky« hängen.
    Hatte ich diesen Namen schon einmal gehört? Das Herz schlug mir bis zum Hals, meine Handflächen wurden feucht. Meine Hand zitterte, als ich den Finger auf den Klingelknopf legte. Ja, »Lewinksy«, dieser Name klang irgendwie vertraut. Ich drückte. In der Erwartung, gleichdas Knacken der Gegensprechanlage zu hören, hob ich den Kopf und lauschte.
    Aber da war nichts, kein Laut, keine Antwort. Ich klingelte noch einmal, trat ein paar Schritte zurück und blickte an der schmutziggrauen Fassade empor. Glasbausteine markierten von außen den Verlauf des Treppenhauses. Immer wieder formten meine Lippen den Namen »Lewins ky «. Ich wiederholte ihn wie ein Mantra, eine Zauberformel, die mir die Macht gab, diesen Menschen vor meinem inneren Auge zu materialisieren. Nun war mir völlig klar, dass der Name »Lewinsky« zu einem Mann gehören musste.
    In welcher Etage, in welcher Wohnung lebte
er
? Es war noch keine

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