Der andere Tod
sogar gegen ihren Willen ein Treffen erzwungen? War sie ihm in irgendeiner Art verfallen? Sexuelle Hörigkeit, emotionale Abhängigkeit? Oder erpresste Lewinsky sie? Vielleicht damit, sich das Leben zu nehmen, wenn sie nicht zu ihm zurückkehrte?
Fragen über Fragen. Ich richtete mich abrupt auf und stieß dabei so ungeschickt gegen das Lenkrad, dass ich schmerzhaft meine Rippen spürte. Egal, was passieren würde – ich musste alles herausfinden.
Zu Hause war es still. Frau Meerbaum hatte heute nur einen halben Tag gearbeitet. Was Anouk vorhatte, hatte sie mir nicht verraten. Ihr Wagen stand nicht mehr in der Garage.
Jetzt war die Gelegenheit günstig, um den ersten Teil meines Plans in die Tat umzusetzen. Schnurstracks lief ich nach oben und hielt auf Anouks Schreibtisch zu. Mit zitternden Händen zog ich die Schublade auf, in der ich kürzlich auf ihr Tagebuch gestoßen war.
Ich tastete mich weit nach hinten, bis zur Rückwand der Schublade. Hier gab es loses Papier, Briefbögen und Umschläge, aber kein Tagebuch. Seltsam. Ich leerte den gesamten Inhalt der Schublade auf den Boden. Auch jetzt tauchte das Tagebuch nicht auf.
Verwirrt nahm ich mir die nächste Schublade vor unddurchwühlte schließlich den ganzen Schreibtisch. Ich fand das Tagebuch nicht. Anouk musste es inzwischen herausgenommen haben.
In immer wilderer Entschlossenheit durchsuchte ich die übrigen Möbel des Zimmers, hob sogar die Matratzen an, schob die Kommode von der Wand, ließ meine Finger über die Rückwand des Kleiderschranks gleiten. Doch da war nichts. Das Tagebuch war und blieb verschwunden.
Ich saß noch eine Weile auf dem Bett und spürte eine mürbe Schwäche in den Gliedern. Irgendwann raffte ich mich auf, legte alles wieder an seinen Platz und ging in die Küche. Dort holte ich ein Stück Lasagne aus dem Kühlschrank und stellte den Teller mit dem Gericht in die Mikrowelle. Während der Teller sich drehte und ich wie hypnotisiert darauf starrte, klingelte mein Mobiltelefon.
»Winther.«
»Wir haben gehört, dass Sie wieder im Lande sind.«
Es war eine tiefe, sonore Männerstimme und ich kannte sie nicht.
»Wer ist denn da?«
Ich hörte den Anrufer lachen. »Ihren Sinn für Humor haben Sie jedenfalls nicht verloren. Die Frage ist, wie es mit Ihren zeitlichen Kapazitäten aussieht.«
Der Tonfall des Mannes war freundlich, gleichmütig, doch hinter der Freundlichkeit blitzte etwas Bedrohliches auf.
Wer zum Teufel war das nun schon wieder?
Doch ehe ich meiner Wut Luft machen konnte, öffnete sich hinter mir die Tür und Anouk fragte: »Du bist zu Hause?« Und so drückte ich einfach auf die Aus-Taste und warf den Unbekannten aus der Leitung und aus meinem Leben.
Dass sich die Schreckensgespenster der Vergangenheit aber nicht so einfach in Luft auflösten, ahnte ich zum damaligenZeitpunkt noch nicht. Und das war vielleicht auch gut so.
Anouk trat zu mir, legte ihre Hände sanft auf mein Gesicht und küsste mich lange und innig. »Lieber, du siehst so müde aus.« In ihrem Blick lagen Sorge und Zärtlichkeit.
Ich schluckte. Was war sie doch für eine hervorragende Lügnerin! So also sah der Blick einer Frau aus, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis vor Kurzem noch in den Armen eines Liebhabers gewälzt hatte.
»Willst du dich nicht ein wenig hinlegen?« Sie begann, sich die Bluse aufzuknöpfen. »Komm, wir gehen nach oben.«
Ich taumelte, doch mein Plan hatte nun Priorität. Ich würde nicht eher ruhen, bis ich Bescheid wusste. Und so sagte ich: »Weißt du, ich glaube, ich brauche mal wieder etwas Bewegung. Ich wollte gerade das Rad rausholen.«
Anouks Lächeln zitterte. Vielleicht aus Erleichterung? »Ja, tu das, du bist schon lange nicht mehr den Pfänder hochgefahren.«
Ich schlüpfte in Radlerhosen und in ein albernes buntes Shirt, auf dem »CSC« stand und in dem ich mir viel zu dick vorkam. Bevor ich starten konnte, musste ich noch die Reifen aufpumpen. Dann schrieb ich »Lewinsky« auf einen Umschlag, den ich mit ein paar Briefsendungen in einen Rucksack steckte. Es konnte losgehen.
Allerdings fuhr ich nicht bergauf, sondern talwärts in Richtung der deutschen Grenze. Ich hielt mich immer am Seeufer und irgendwann, es musste eine gute halbe Stunde gedauert haben, gelangte ich schließlich nach St. Margrethen.
Vor Lewinskys Haus angekommen, zögerte ich nichtund drückte unverzüglich auf den Klingelknopf. Als auch auf mein zweites Läuten niemand reagierte, arbeitete ich mich systematisch
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