Der andere Tod
Sommerwind über mich hinweg. Anouk ist da und ich weiß nun, dass alles gut werden wird.
Aber da tritt ein Schatten hinter ihr hervor, ein großer Mann, der die Arme nach ihr ausstreckt. Im ersten Moment verstehe ich nicht. Die einzige Frage, die mich beschäftigt, ist nun, warum Anouk die Sonnenbrille trägt, warum sie das Tuch um ihr Haar geschlungen hat.
Da verschwindet Anouk in den Armen des Schattenmannes.Ich will schreien, ihr zurufen, ich breche aus dem Gebüsch hervor. Aber Anouk ist verschwunden.
An dieser Stelle reißt der Film und wird in einer anderen Szenerie fortgesetzt.
Jetzt bin ich im Haus, in unserem Schlafzimmer. Ich zittere, denn etwas Schlimmes ist passiert. Aber ich habe die Erinnerung daran verloren. Ich sehe Julie, die dasteht und mich ansieht. »Take your time«, sagt sie mit weicher Südstaatenstimme – »Lass dir Zeit.«
Schnell verblasst Julies Erscheinung wieder und ich bin allein. Hier stehe ich, am Fußende des Bettes, und da ist es wieder: das alttestamentarische Bild.
Ich starre wie gebannt darauf.
Es kommt immer näher. Die beiden Bäume wachsen in grotesker Heiterkeit in unser Zimmer hinein, sie strecken ihre Zweige wie Fangarme nach mir aus. Engel und Satan geraten in Bewegung. Alles ist lebendig. Von irgendwoher spritzt Blut.
In diesem schrecklichsten aller Momente wachte ich auf. Und erkannte, dass es nur ein Traum war, wenngleich mir tatsächlich der Schweiß in die Augen rann. Anouk lag neben mir. Ihre weiße Schulter stach klar von der Dunkelheit im Raum ab. Anouk hatte das Gesicht zur Seite gedreht. Sie atmete ruhig und gleichmäßig.
Was war mit diesem Schlafzimmer, was war mit dieser Wand hinter unserem Bett? Warum kehrten sie immer wieder zu mir zurück, diese beiden Bäume, selbst nach solch einer Nacht, nach solch einem Tag, wie ich ihn gestern erlebt hatte?
Ich sah auf die Uhr. Es war halb acht. Behutsam schlug ich die Decke zurück, stieg aus dem Bett und stellte mich ans Fußende, genau dorthin, wo ich in meinem Alptraum gestanden hatte.
Alles sah aus wie immer. Alles war vertraut und doch irgendwie fremd. Der Spiegel, der über dem Kopfende unseres Bettes hing, erwiderte meinen Blick. Ich sah in Max Winthers Augen. Er stand da, mit nacktem Oberkörper, ohne sich zu rühren, und schaute mich an.
Das Morgenlicht fiel von der Seite auf sein Gesicht und die Schatten zeichneten ein »V« auf seine Wange.
Plötzlich wusste ich, was falsch war.
Es war der Spiegel.
Leise ging ich zur Wand hinüber und hob ihn an, gerade so viel, dass ich dahintersehen konnte. Ich ging zurück, um das Bett herum, zur anderen Seite, und hob auch dort den Spiegel ein Stück weit von der Wand weg.
Und da sah ich sie. Sie waren nicht auf den ersten Blick erkennbar. Erst, als ich mich vorbeugte und sie von einem bestimmten Winkel aus betrachtete, bemerkte ich Schatten – leichte, kaum wahrnehmbare Umrisse, zwei rechte Winkel. Und mit einem Mal war klar: Hier hatte früher etwas anderes gehangen.
Die Paradiesbäume!
Von dieser Wand herab hatten mich Engel und Satan angesehen, hier, an dieser Stelle. Und ich hatte eine Idee, wie ich mir letzte Gewissheit verschaffen konnte.
Ich verlebte ein von Ungeduld und Erwartung geprägtes Wochenende. Am Montagmorgen war es endlich soweit. Anouk stand unter der Dusche und ich fand Frau Meerbaum in der Küche.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Sie sind ja noch da! Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne.«
Frau Meerbaum, in ihrem gestärkten Haushaltskittel derInbegriff von Arbeitsamkeit, richtete eine gelbe Untertasse und einen Löffel her. Dann stellte sie eine orangerote Tasse unter die Austrittdüse des Kaffeeautomaten. Ich überlegte, wie ich das Gespräch unauffällig und direkt auf den Schlafzimmerspiegel lenken konnte. Mir blieb nicht viel Zeit, da Anouk ihre Morgentoilette sicher bald beendet haben würde.
»Sagen Sie, Frau Meerbaum, ich spiele mit dem Gedanken, ein paar Möbel umzustellen, vielleicht auch ein paar Bilder auf- oder umzuhängen.« Ich kam mir vor wie ein Idiot und hätte mich ohrfeigen mögen – »Ich spiele mit dem Gedanken«: Was für ein Holzkopf! War ich denn nicht in der Lage, eine direkte Frage zu stellen?
Frau Meerbaum nahm die Tasse aus dem Automaten und stellte sie mit leichtem Klimpern auf die Untertasse.
»So, so. Früher haben’S sich ja nicht grad’ b’sonders für die Wohnungseinrichtung interessiert.« Es klang wie ein Vorwurf.
»Nun ja … Das war früher. So ein Erlebnis
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