Der andere Tod
nach oben vor. Bei »Monika Leithe« hörte ich, wie die Sprechanlage knarzte und eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher schnarrte: »Ja, bittschön?«
»Express Fahrradkurier. Ich habe eine Eilsendung für Herrn Lewinsky. Er ist nicht da. Könnten Sie den Brief annehmen?«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Die Frau überlegte offenbar, was zu tun war. Wenig später summte der Öffner, ich drückte die Tür auf und betrat das Treppenhaus.
Hier roch es nach Waschmittel und Steinfußboden. Ich ging die Treppe hoch. In einer Wohnungstür stand eine Frau mit fein säuberlich angeordneten Lockenwicklern auf dem Kopf. Sie trug ein rot-weiß getupftes Sommerkleid und ich erkannte in ihr die Frau, die neulich das Haus verlassen hatte, als ich zum ersten Mal davor gestanden hatte. Aus der Wohnung drang hysterisches Hundekläffen.
Ich wiederholte: »Express Fahrradkurier. Hier, eine Eilsendung für Herrn Lewinsky. Würden Sie das für ihn annehmen?«
Die Frau zögerte, bevor sie sprach: »Im Prinzip schon. Nur weiß ich nicht recht … Der ist ja nie da.« Behutsam betastete sie ihre Lockenwickler. »Nicht, dass ich dann auf dem Brief sitzen bleibe.«
»Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«
»Na ja, ich wohne ja erst seit Kurzem hier. Und sowieso sieht man sich ja nicht so oft. In diesen Hochhäusern. Oder zumindest achtet man nicht darauf. Also … seien Sie mir nicht böse, aber ich nehme den Brief lieber nicht an.«
»Wo wohnt denn der Hausmeister? Vielleicht kann der mir helfen …«
»Da kommt nur einer von extern, wenn mal was zu tun ist. Aber schieben Sie doch den Brief einfach unter der Tür durch. Jetzt, wo Sie schon mal im Haus sind.«
»Das darf ich leider nicht.« Ich versuchte, möglichst routiniert und professionell zu wirken.
In diesem Moment wurde die Haustür unten geöffnet und jemand kam die Treppe herauf. Es war eine schwindsüchtig aussehende junge Frau in einem lappigen Baumwolltop, die ein Baby auf dem Arm hielt. Das Kind glubschte vor sich hin und ich sagte: »Entschuldigen Sie, ich habe eine Sendung für Herrn Lewinsky.«
Die Frau zuckte nur mit den Achseln und nuschelte: »Keine Ahnung.«
Die Hitze duckte sich auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Ich stand ein wenig ratlos an meinem Rad herum, als das Handy zu dudeln begann.
Es war Wenzlow, der von mir eine Entscheidung wegen eines neuen Angebots nach Indien erwartete. Ich war kurz angebunden. Ein wenig unwirsch vertröstete ich ihn auf den nächsten Morgen. Gerade wollte ich mein Rad besteigen, da klingelte es erneut. Ohne auf die Nummer zu achten, bellte ich ins Telefon: »Was denn noch?«
»Servus, Max«, gurrte Barbara.
Ich hielt den Atem an, überlegte fieberhaft, wie ich mich verhalten sollte, und entschied mich für ein geschäftsmäßiges »Hallo, Barbara«.
Als sie weiter nichts sagte, fragte ich ebenso förmlich: »Was kann ich für dich tun?«
»Was ist denn das für eine Frage … was du für mich tun kannst. Du hörst dich an wie ein Obstverkäufer!«
»Barbara, ich bin hier gerade mit dem Fahrrad unterwegs. Können wir später telefonieren?«
»Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht!«
»Was ist denn an dieser Bitte so ungewöhnlich? Lass uns einfach später reden.«
»Ich will
jetzt
reden. Und ich lasse mich von dir nicht vertrösten. Oder wegschieben. Du behandelst mich wie ein lästiges Kind. Das war nicht immer so.«
»Barbara. Es ist so viel geschehen …«
»›Barbara, Barbara.‹« Sie äffte meinen Ton nach. »Ich weiß selbst, dass ich so heiße … Und was soll denn das bedeuten, ›es ist viel geschehen‹?«
»Das Feuer, meine Operationen, die Reha. Seit unserer Rückkehr kostet mich alles so viel Kraft … und Zeit.«
»Früher warst du es immer, der mich nach
meiner
Zeit gefragt hat!«
Plötzlich spürte ich eine seltsame Erheiterung. Das war die Farce eines Gesprächs, es war die Wortwahl aus einer drittklassigen Vorabendserie, Folge hundertfünf … Und in diesem Sinne hörte ich mich selbst sagen: »Die Zeiten ändern sich.«
Barbara schien das Ganze nicht so zu sehen wie ich, denn sie erwiderte beißend: »Seid ihr etwa wieder richtig zusammen?«
Barbara spielte also auf meine Ehe mit Anouk an. So unverfänglich wie möglich antwortete ich: »Wir sind verheiratet. Anouk ist meine Frau.«
Ich hörte, wie Barbara nach Luft schnappte und dann auflachte. Es klang bitter. Bitter und zynisch: »Das war doch damals auch kein Hinderungsgrund für dich, es mit mir quasi
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