Der andere Tod
doch sofort wiedererkennen müssen. Warum hatte sie mir nie erklärt, dass es einmal bei uns im Schlafzimmer gehangen hatte? Und was war in jener Nacht geschehen? Was hatte ich noch getan, außer eine Rotweinflasche an der Zimmerwand zu zerschmettern?
Als Anouk sich nach dem Frühstück an die Gartenarbeit machte und Frau Meerbaum im oberen Stock mit dem Staubsauger zugange war, marschierte ich hinunter in den Keller.
Und da stand er – hinter Umzugskartons, einer alten Stehlampe, einem ausladenden Buffet, mit der Vorderseite zur Wand: mein Holz und Leinwand gewordener Alptraum.
Wie viele Nächte hatte es mich verfolgt, durch wie viele Träume hatte es mich gejagt, dieses Bild, das ich bisher als pures Produkt meiner irregeleiteten Phantasien aufgefasst hatte! Es waren exakt die Bäume, die mich auf meinen Strandläufen in Garrapata Beach verfolgt hatten, die ich mit ungeschickten Händen auf Leinwand gebannt hatte.
Ich zog die Leinwand ein Stück weiter nach vorne. Es war, als träte ich der Fotografie meines eigenen Traumbilds gegenüber. Alles war genau so, wie ich es schon hundertfach nächtlich gesehen hatte. Sogar die dunklen Flecken, die ich im Traum für Blut gehalten hatte, waren da.
Das wirklich Irritierende aber war, dass ich Frau Meerbaums Worten einfach nicht glauben konnte. Das waren nie und nimmer Rotweinflecken.
Nach dieser Entdeckung setzte ich mich ins Auto und fuhr. Ich fuhr und wusste nicht wohin, nur fort wollte ich. Fort aus diesem Haus, in dessen Keller ein Bild stand, das ich bis heute Morgen lediglich für die Ausgeburt meiner Phantasie gehalten hatte. Jetzt, da es in der Realität aufgetaucht war, jagte es mir panische Angst ein. Die Schrecken eines Alptraums waren nichts dagegen.
Ich musste außerdem so schnell wie möglich fort von der Meerbäumin, die mir ihre offenkundige Missbilligung gezeigt hatte; fort von Anouk, die immer weiter von mir wegzudriften schien.
Am liebsten wäre ich fortgegangen aus diesem Leben, das ein einziges Rätsel, eine einzige Lüge war.
Ich fuhr den Pfänder hoch und auf der anderen Seite wieder hinab, folgte kurvigen Sträßchen, die mich tiefer und tiefer in die Einsamkeit des Bregenzer Waldes führten.
Auf einem Wanderparkplatz hielt ich an. Als Erstes rief ich Wenzlow an, sagte, ich würde heute nicht kommen. Dann wühlte ich im Handschuhfach, denn ich wusste, dass dort ein Block war und auch ein Kugelschreiber. Von rasender Eile getrieben flogen die Worte aufs Papier: »Max Winther«. Ich schrieb meinen Namen in die Mitte, umkreiste ihn und sandte davon Strahlen aus, an deren Ende ich schrieb, was mir gerade so einfiel. Der erste Strahl endete mit: »Schmeißt Rotweinflaschen an die Wand«, der zweite: »Betrügt seine Frau«, der dritte: »Wird von seiner Frau betrogen« und immer so weiter. »Hat Geld, aber woher?« folgte auf: »Trinkt zu viel und verliert die Kontrolle«, »Schlägt seine Frau«, »Hat Handschellen – wozu?«.Und so kritzelte ich alles, was mir einfiel, auf das Blatt. Bis es voll war.
Ich versuchte, ein Muster zu erkennen, eine Struktur meines früheren Lebens zu erspüren: Was für ein Mensch war ich gewesen? Offensichtlich war der Max Winther von früher tatsächlich ersetzt worden durch den Max Winther, der ich jetzt war.
Aber warum konnte oder wollte sich keiner mit mir darüber unterhalten? Anouk. Sicher, sie hatte mit mir zusammen in der Rosenstein Clinic mein Leben rekapituliert. Doch es war eine zensierte Version der Wahrheit gewesen.
Von den Ausbrüchen unter Alkohol musste ich von Jaro erfahren, dann Wenzlows Andeutungen über den Zustand unserer Ehe, früher, vor dem Brand. Dann das Gespräch mit Hürli. Zweifel und neue Fragen, die nach einer Antwort schrien. Und schließlich Barbara, Anouks beste Freundin, die sich an mich drängte und allen Ernstes behauptete, sie und ich, wir hätten früher …
Konnte das sein? War das alles möglich? Aber vor allem: War es möglich, dass ein Mensch sich an nichts, nichts von alledem erinnerte?
Und was war mit dem Schweizer Konto, mit diesen Unsummen, die regelmäßig darauf geflossen waren?
Was würde passieren, wenn ich weiter forschte, wenn ich den Spuren nachginge, zurück in die Vergangenheit? Was wäre, wenn sie auf dem Weg verblassten und nicht mehr erkennbar wären? An das Bild im Keller mochte ich gar nicht erst denken.
Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich eine weitere Entscheidung treffen musste. Aber vielleicht war das alles ja gar nicht
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