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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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mir, als breche der seit meiner Rückkehr mühsam aufrechterhaltene Schutzwall. Es hatte mich schon unsäglich viel Energie gekostet, all meine Erinnerungslücken zu verbergen. Ich war auf eine existentielle Weise müde. Tagtäglich wurde ich mit all meinen Unzulänglichkeiten konfrontiert. Und ein Ende dieses Versteckspiels war nicht in Sicht.
    Die Frage kam über mich wie eine Flutwelle: Warum, um alles in der Welt, sollte ich dieses Spiel weiterspielen? Warum konnte ich nicht einfach zu den Menschen um mich herum sagen: Was erzählt ihr mir da, ich weiß nichts mehr! Sagt mir gefälligst alles oder lasst es bleiben. Aber ich will nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen.
    Und so schrie ich fast: »Ich habe nicht nur Erinnerungslücken, wie ich Ihnen das letzte Mal sagte. Ich erinnere mich an so gut wie
gar nichts
. Nicht an den Brand, nicht an das, was unmittelbar davor war, und erst recht nicht an dasLeben, das ich davor geführt habe! Herr Hürli, ich bin wie ein neugeborener Erwachsener. Eine gelöschte Festplatte, unbeschrieben. Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Und was ich erfahren habe, über mich selbst, ist alles andere als erfreulich. Es ist, als lernte ich einen Fremden, einen unsympathischen Fremden, kennen. Da tauchen Menschen auf … aus meiner Vergangenheit. Zum Beispiel eine Frau, Barbara heißt sie, sie ist angeblich die beste Freundin von Anouk. Und diese Frau behauptet, ein Verhältnis mit mir gehabt zu haben. Ich hätte mich mit Scheidungsgedanken getragen, damals, vor dem Brand. Das ist doch unfassbar!
    Seit meiner Rückkehr versuche ich verzweifelt, dieses Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch immer wieder falle ich in diese dunklen Löcher. Es klingt pathetisch, aber ich habe mich verändert. Ich will neu anfangen. Nur: Dazu muss ich auch wissen, was vorher war. Und obendrein erzählen Sie mir, dass der Mann, der damals dort verbrannt sein soll, noch lebt. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet?«
     
    Eine halbe Stunde später war der Tee kalt, mein Mund trocken, der Kopf schwer. Langsam nahm ich den letzten Schluck aus meiner Tasse.
    Ich hatte Hürli alles erzählt. Von der Sache mit Lewinsky und Anouks Besuch in dessen Wohnung. Mir war ein wenig mulmig zumute, aber andererseits fühlte ich mich auch erleichtert. Hier saß jemand, der mir zuhörte. Hier saß ich, der erkannte, in welch entsetzlichem Chaos ich lebte.
    Es war ein Chaos der Lücken und Fragmente, ein Chaos der Widersprüche und Schatten.
    Während meines Berichts hatte Hürli ganz ruhig dagesessen und mit aufmerksamer Miene hin und wieder an seiner Pfeife genuckelt, die er auch heute bewusst nichtanzündete. Sein Gesicht hatte nichts verraten, weder Erstaunen noch Skepsis, allenfalls eine zenbuddhistische Gleichmut. Vielleicht auch Mitgefühl mit einem Menschen, der in einen fürchterlichen Strudel geraten war und nicht wusste, wie er wieder an die Wasseroberfläche gelangen sollte.
     
    »Was wissen Sie über Lewinsky?« Hürli sah mich prüfend an.
    »Nichts. Im Grunde weiß ich nichts über ihn.«
    »Irgendeinen Hinweis müssen Sie doch in seiner Wohnung gefunden haben. Wo arbeitet er, wo kommt er her? Haben Sie denn gar nichts gefunden?«
    »Das ist ja das Merkwürdige. Je mehr ich darüber nachdenke, desto seltsamer kommt es mir vor. Ich meine, ich habe seine Sachen durchsucht, seinen Schreibtisch, seine Ordner. Aber da war einfach überhaupt nichts Persönliches.«
    Hürli nickte stumm. Ich wusste, dass ich nach wie vor seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Was mich natürlich vor allem interessiert, ist, ob meine Frau sich weiterhin mit ihm trifft. Sie verstehen, ich will endlich Klarheit. Ich weiß einfach nicht, ob ich ihr vertrauen kann. Aber … das ist noch lange nicht alles … Nun ja, das würde jetzt zu weit führen.«
    Ich zog kurz in Erwägung, Hürli von dem alttestamentarischen Bild, das im Keller Wirklichkeit geworden war, zu erzählen. Aber dieser Teil meiner Geschichte war einfach zu konfus, zu verwirrend. Im Moment gab es Vordringlicheres.
    »Hören Sie, ich fühle mich bedroht.«
    Hürli fragte nicht nach, sondern forderte mich nur mit einem Nicken zum Weitersprechen auf.
    Ich war ganz außer Atem, wie wenn ich gerade einen Marathonlauf zurückgelegt hätte. »Jemand beobachtet mich. Jemand folgt mir.«
    »Herr … ähm … Winther. Immerhin hatten Sie ein traumatisches Erlebnis. Ein Mensch ist gestorben, Sie selbst haben nur knapp überlebt. Kann es nicht sein, dass

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