Der andere Tod
Sie … etwas sensibel geworden sind?«
»Sie meinen: ob ich durchgeknallt bin und unter Verfolgungswahn leide?« Diese Vermutung lag nahe. Mein Ton wurde beschwörend: »Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich mich irgendwie bedroht fühle.« Ich stützte die Ellenbogen auf, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und massierte meine Schläfen. Der Druck in meinem Kopf hatte sich verstärkt.
Hürli schwieg. Die Gedanken blieben hinter seiner Zen-Miene verborgen. Dieser Mann hatte das perfekte Pokerface.
»Kann es sein, dass dieser Lewinsky etwas damit zu tun hat? Vielleicht folgt
er
Ihnen ja.«
»Aber warum? Was hätte er für einen Grund?«
»Vielleicht sollten Sie versuchen, das herauszufinden. Ich könnte Ihnen helfen.«
Ich sah auf. »Wie wollen Sie das denn anstellen?«
»St. Margrethen ist nicht weit von hier. Ich könnte hinfahren und mich umhören.«
»Das würden Sie für mich tun?« Ich wurde sofort misstrauisch.
»Nun schauen Sie mich doch nicht so an, als wollte ich Sie übers Ohr hauen.«
»Und was … wollen Sie dafür?«
»Sagen wir mal so: Wahrscheinlich bin ich einfach nur neugierig. Vielleicht habe ich noch eine Rechnung offen … mit mir selbst. Seit damals, seit dem Brand und meinerAussage bei der Polizei, denke ich immer mal wieder an diese Geschichte. Allerdings …«, Hürli legte eine Pause ein und fixierte mich, »werde ich das Gefühl nicht los, dass es da noch etwas gibt … etwas Wesentliches, was Sie mir verschweigen.« Hürli sagte das völlig ruhig und entspannt, doch in seinen Augen lag ein merkwürdiger Glanz.
»Nun ja, da ist tatsächlich noch was …«
Ich zögerte. War es richtig gewesen, einen Fremden in mein Privatleben blicken zu lassen? Ich hatte doch eigentlich mit dem Gedanken gespielt, einen professionellen Detektiv zu beauftragen. Doch nun hatte ich Hürli eingeweiht und Worte konnte man ja bekanntlich nicht zurücknehmen. Aus einem völlig irrationalen Gefühl heraus vertraute ich diesem Mann.
Ich holte tief Luft: »Es ist wohl so, dass ich damals ziemlich viel getrunken habe. Jedenfalls habe ich Anlass zu der Annahme, dass ich Anouk … meine Frau … geschlagen habe.«
Ich wollte sofort im Boden versinken, in Dunkelheit, geschützt vor Hürlis wissendem Scannerblick, der alles aus mir herauszulesen schien.
Unvermittelt sagte er: »Mir brauchen Sie nichts vorzumachen, Max Winther. Was glauben Sie, was ich alles schon gehört und gesehen habe. Wenn man sich, wie ich, schon einmal ganz unten befunden hat …«
Ich schwieg, nahm eine Papierserviette von einem Stapel auf Hürlis Tisch und tupfte mir die Stirn ab.
Auf Hürlis Gesicht lag wieder dieser ehrliche und verständnisvolle Ausdruck. »Dieser Sommer wird langsam zu einer Landplage. Ein bisschen Regen täte uns allen gut. Und ein wenig Abkühlung.« Ohne Überleitung fügte er an: »Der Mann, der Giaconuzzi gesehen hat, vorgestern amSee, ist
absolut
glaubwürdig. Sonst hätte ich Sie niemals angerufen.«
Ich fühlte, wie eine Röte meinen Hals und mein Gesicht zu überziehen begann, und hoffte inständig, Hürli würde es auf die soeben beschworene Hitze zurückführen. Seine Röntgenaugen brannten auf meiner Haut.
Einige Sekunden verstrichen, in denen ich fieberhaft überlegte, ob ich es wagen konnte, ihn direkt darauf anzusprechen. Schließlich platzte ich heraus: »Werden Sie es der Polizei sagen?«
»Der Polizei, meinem Freund und Helfer? Ich habe schon einmal versucht, denen etwas zu sagen.« Er lächelte bitter. Und dann fügte er hinzu: »Ich werde mich umhören. Wegen Lewinsky.«
Beim Abschied nahm Hürli mir ein Versprechen ab. Ich sollte mich bei ihm melden, falls ich seine Hilfe benötigte, in welcher Angelegenheit auch immer. Schnell schluckte ich meine Rührung hinunter. Dann begleitete mich das blecherne Scheppern seiner Türglocke in die Hitze des frühen Abends.
Ich stieg die roten Stufen hinunter. Irgendwie war es tröstlich zu wissen, dass es Hürli gab. Er war der einzige Mensch, der die Wahrheit über mich kannte. Seine leichte Schweizer Kadenz hatte ihn von Anfang an sympathisch wirken lassen. Seine besonnene Art war wie Balsam. Er wertete nicht. Er urteilte nicht.
Entspannter denn je fuhr ich dahin, die Klimaanlage auf volle Leistung gedreht, und ließ den Schweizer Teil des Bodensees mit 120 km/h an mir vorüberziehen. Nach einer Weile keimte sogar fast so etwas wie Zuversicht in mir auf. Den Gedanken an Giaconuzzi und die Bedeutung seiner
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