Der andere Tod
identifizierte.
»Ja … äh … hallo? Hier spricht Max Winther. Anouks Mann«, setzte ich absurderweise hinzu.
Schweigen und ein Knacken in der Leitung waren alles, was ich hörte. Ich wiederholte meinen Namen. »Ich möchte gerne Frau Svedberg sprechen.«
Da antwortete die Stimme auf Deutsch: »Am Apparat.«
Ich begann mit »Anouk«, stockte und hob wieder zu sprechen an, kam aber nicht weit, da Anouks Mutter mich barsch und gleichzeitig angstvoll unterbrach: »Was ist mit meiner Tochter?«
Kein »Hallo«, keine Begrüßung, nur dieser eine mit Schärfe gesprochene Satz. Ich begann von Neuem: »Es ist etwas geschehen. Anouk hatte … einen Unfall.«
»Einen Unfall? Geht es ihr gut?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe noch nicht mit den Ärzten gesprochen. Auf jeden Fall wollte ich Sie gleich informieren.«
»Was ist mit Anouk? Was ist mit meinem Mädchen?« Frau Svedbergs Stimme war panisch geworden, schrill, sie drohte sich zu überschlagen.
»Ich bin nach Hause gekommen, vor etwa einer halben Stunde. Und da hab ich sie gefunden. Im Schlafzimmer. Sie hat versucht, sich … die Pulsadern zu öffnen.«
Ein erstickter Schrei, dann ein: »Arne, Arne, komm schnell!« Es knackte wieder in der Leitung und eine Männerstimmemit schwedischem Akzent rief mit mühsam unterdrückter Wut: »Was hast du mit unserer Tochter gemacht! Das ist alles deine Schuld, das warst du, du allein!«
»Herr Svedberg. Ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich bin nach Hause gekommen, und da hab ich Anouk so vorgefunden.«
» Du
hast sie dazu getrieben! Hella hat Anouk schon immer vor dir gewarnt. Ein Mensch in dem Alter ändert sich nicht mehr. Hast du sie wieder geschlagen?«
Mir fehlten die Worte. »Ich habe sie doch nicht geschlagen!«
Jetzt hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich fuhr herum und sah die beiden Kriminalbeamten in der Tür stehen. Die Blonde hatte ein paar Handschellen in der Hand. Im ersten Moment glaubte ich, sie wollten mich abführen, bis mir klar wurde: Das waren die Handschellen aus meinem Nachttisch. Voller Entsetzen starrte ich darauf. Die Augen der Oberholzerin verrieten, dass sie von ihrem Fund ganz und gar nicht begeistert war.
Zu Anouks Vater sagte ich nurmehr äußerst kurz angebunden: »Ich muss jetzt aufhören. Ich fahre ins Krankenhaus und melde mich von dort aus wieder. Wenn ich mit den Ärzten gesprochen habe.«
Natürlich befragten sie mich sofort zu den Handschellen. Und natürlich konnte ich keine plausible Antwort geben. Ich stotterte herum, sagte etwas von »Gedächtnisverlust« und erkannte, dass sie mir kein einziges Wort glaubten. Dann ließ Brandner mich gehen, jedoch nicht ohne mich für den nächsten Vormittag zu einer – wie er betonte – »Routinebefragung« auf die Gendarmerie vorgeladen zu haben.
Ich schnappte mir meinen Rucksack, nahm das Handyund den Autoschlüssel und verließ endlich das Haus. Als ich wegfuhr, kam mir ein Wagen mit drei Männern entgegen. Im Rückspiegel sah ich, wie sie an unserer Einfahrt hielten und ausstiegen. Was war denn nun schon wieder?
Ich stoppte und sah genauer hin: Der eine hielt einen großen schwarzen Koffer in der Hand oder etwas, das wie eine Arzttasche aussah. Der andere, der hinten gesessen hatte, zog etwas Unförmiges, Weißes heraus, das ich auf die Entfernung nicht erkannte. Jetzt standen sie alle drei vor unserem Haus herum und riefen jemandem etwas zu. Wahrscheinlich hatte der Polizeiposten vor der Tür sie angesprochen.
Dann sah ich, wie der eine einen Fuß in das weiße Ding setzte. Das musste ein Overall sein. Offenbar war der Typ gerade dabei, ihn überzuziehen.
Ehe sie auf mich aufmerksam werden konnten, fuhr ich davon.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus hätte ich fast einen Auffahrunfall verursacht. Ich war viel zu schnell unterwegs und achtete viel zu wenig auf den Verkehr. Mit meinen Gedanken war ich nur bei Anouk. Warum hatte sie das getan und wer hatte den Krankenwagen gerufen? Die Meerbäumin? Sicherlich nicht, sie wäre doch bei Anouk geblieben. Es war mir unerklärlich.
Als ich gerade in den Krankenhausparkplatz einbog, klingelte mein Mobiltelefon. Ich wählte den erstbesten Stellplatz und schaltete den Motor ab. Mit zitternden Fingern drückte ich die Taste. Ich hatte Angst. Angst vor dem, was man mir jetzt vielleicht gleich sagen würde. Dass Anouk auf dem Weg zum Krankenhaus gestorben sei.
Es waren weder die Sanitäter noch der Arzt. Es war jemand, an den ich in diesem Moment zuallerletzt gedacht hätte.
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