Der andere Tod
Und doch erkannte ich den russischen Akzent nachder ersten Silbe. »Ich hatte ja versprochen, mich wieder bei Ihnen zu melden.«
Meine Stimme war ein einziges Krächzen. Ich konnte beim besten Willen nicht antworten.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«
Ich räusperte mich und presste mühsam hervor: »Was haben Sie ihr angetan?«
»Wir … ihr …? Aber Max! Wie können Sie Schlechtes von uns denken? Wir wollen doch nur Ihr Bestes. Und bis jetzt sind Sie mit uns auch ganz gut gefahren. Natürlich müssen wir unsere Interessen verfolgen …« Der Fremde verstummte, im Hintergrund hörte ich Gemurmel. Dann kam die entscheidende Information: »Das Ausflugsschiff nach Lindau. Morgen um elf Uhr. Und lassen Sie Ihr Handy eingeschaltet.«
»Warten Sie!« Ich wollte gerade fragen, woran ich ihn erkennen konnte, aber – dem Himmel sei Dank – er hatte bereits aufgelegt. Wenn ich mich nicht vorsah, würde ich mich mit meinem Gerede noch in Teufels Küche bringen.
Eine Weile blieb ich sitzen, sah Autos kommen und abfahren, Besucher ein- und aussteigen. Verzweifelt bemühte ich mich, Struktur in meine Gedanken zu bringen.
Anouk, der anonyme Notruf, die Kripo, der Fremde. Alles war so wirr, so ungeordnet. Je länger ich darüber nachdachte, desto tiefer versank ich in Dunkelheit und Chaos.
Hatte der Unbekannte etwas mit Anouks »Unfall« zu tun? Wieso bloß hatte er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt angerufen? Hatte er Anouk irgendetwas Schreckliches, etwas Ungeheuerliches über mich erzählt? Oder war
er
es gewesen – er oder einer seiner Helfershelfer –, der Anouk die Pulsadern aufgeschnitten hatte?
Mühsam riss ich mich los von diesem Gedankenstrudel,der mich doch nur im Kreis herumwirbelte. Mit einem schweren Seufzer stieg ich aus dem Wagen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich über den Parkplatz kam und im Gewirr der Klinikkorridore das richtige Zimmer fand. Wahrscheinlich hatte ich einfach den Mann an der Pforte gefragt. Ich weiß nur noch, dass ich mit einer Schwester sprach, deren Worte für mich unverständlich waren.
Das Licht auf der Intensivstation war trübe, bedrückend und irgendwie unwirklich. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, in einem Aquarium zu treiben, tief unter der Wasseroberfläche.
Dann stand ich in der Tür zu Anouks Zimmer. Von Weitem sah ich ihr Gesicht. Es war bläulich. Ich glaubte zu wissen, dass sie tot war. Doch die Schwester sagte mit ihrer kompetenten Munterkeitsroutine ein paar Worte zu mir und so bewegte ich mich auf das Bett zu.
Im Näherkommen stellte ich fest, dass Anouk atmete. Fast unmerklich, aber dennoch eindeutig, hob und senkte sich ihr Brustkorb.
Sie lebte.
Ich zog mir einen Stuhl heran. Lange betrachtete ich ihr Schweigen, die weißen Binden an den Unterarmen, die lila Adern an ihrem Hals. Und dann weinte ich. Ich saß an ihrem Bett und schluchzte und konnte nicht aufhören.
Irgendwann berührte mich jemand an der Schulter. Es war eine Schwester. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob es dieselbe war wie vorhin. Inzwischen musste es tiefe Nacht geworden sein, aber im Grunde war das alles egal. Ich würde hier sitzen bleiben, mehr wollte ich nicht, mehr wusste ich nicht und mehr wollte ich auch nicht wissen.
Etwas später nickte ich ein und träumte wirres Zeug, von einer marmornen Anouk, die so schön war und so weiß wie Schnee und in einem roten See lag.
Eine Stimme flüsterte ganz dicht an meinem Ohr und ich fuhr herum, erschrocken, denn ich hatte geglaubt, allein zu sein. Allein mit der stillen Anouk. Und da sah ich, dass die Stimme kein Gesicht hatte. Um uns herum rauschten Worte, wurden lauter, steigerten sich zu einem bedrohlichen Donnern: Was hast du mit meiner Tochter gemacht, du hast sie getötet! Und plötzlich stand da die blonde Polizistin mit den Handschellen, welche sie mir entgegenhielt, schweigend. Ihr seltsamer Blick zerschnitt mein Gesicht wie ein Messer. Blut floss und die Blonde sah regungslos zu. So, als wüsste sie bereits alles, als sei der »Fall« geklärt und das Urteil verkündet. Sie war gleichzeitig auch mein Richter. Ich zuckte zurück, als sie mir die Handschellen anlegen wollte, wäre fast vom Stuhl gefallen und konnte mich gerade noch am Bett abstützen.
Mit wild schlagendem Herzen drehte ich mich um. Hier war niemand außer Anouk. Ein immer gleicher Anblick. Sie trieb mit geschlossenen Lidern auf einem roten See, über dem grünes Licht schimmerte.
Ich erhob mich. Meine Schultern schmerzten. Sanft
Weitere Kostenlose Bücher