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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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berührte ich Anouks Arm und betrachtete sie so lange, bis ich erkannte, dass ihr Brustkorb sich nach wie vor hob und senkte. Ich küsste ihre Stirn, die sich warm und samtig anfühlte.
    Dann rückte ich den Stuhl zurück und ging im Zimmer umher, trat zum Fenster und sah hinaus auf die nächtliche Stadt, die friedlich im Halbschlaf vor sich hin dämmerte. Ich formte die Lippen zu einem Gebet, aber die Worte wollten nicht kommen. Ich hatte vergessen, wie man betet, und kam über »Bitte, lieber Gott« nicht hinaus.
    Aber Gott musste ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen sein. Ein typischer, gewöhnlicher Fall eines neuzeitlichen Individualisten, der nie betet und nie dankt. Dann,wenn er etwas braucht, wendet er sich an Gott.
Der
soll’s richten.
    Mit einem Mal kam ich mir sehr klein vor. Und alles, alles erschien mir sinnlos und nichtig. Ich fluchte über diese fatale Verbissenheit, mit der ich in meinen eigenen Erinnerungslücken versunken war, nicht mehr nach links und rechts gesehen, alles und jeden ausgeklinkt hatte. Ich hatte nur noch das wissen wollen, was ich – in
Gottes
Namen –
nicht
mehr wusste.
    Julies freundliches Gesicht tauchte vor mir auf. Warum bloß hatte ich nicht auf sie gehört? Warum hatte ich mein Schicksal nicht so akzeptiert, wie es nun einmal war? Nun saß ich in einem geisterhaften Zug und rollte dahin, einem unbekannten Ziel entgegen, und fand die Notbremse nicht.
    Vom Fenster aus konnte man direkt auf den Parkplatz des Krankenhauses schauen. Er war jetzt in ein milchiges Licht getaucht. Zwei Scheinwerfer leuchteten auf, ein Auto fuhr davon.
    Ich ging wieder zurück zum Bett, setzte mich erneut neben Anouk und betrachtete sie. Ja, der Zug rollte, nein, er schoss dahin, unaufhaltsam, denn mittlerweile waren noch andere an seiner Fahrt interessiert: Herr Brandner und Frau Oberholzer und – wer auch immer er war – der Russe am Telefon. Und morgen, nein, heute schon würde ich erfahren, was dieser Mann von mir wollte.
     
    Ich stand an der Reling und wartete. Der Fahrtwind zerzauste mir das Haar. Das war zumindest eine Ahnung von Erfrischung an einem Tag, an dem der Wettergott sich entschlossen hatte, die Himmelstore mit bleischweren Stoffbahnen zu verhängen. Am Ufer war die Luft schwül und stickig gewesen.
    Ich betrachtete die Gesichter meiner Mitreisenden undteilte sie in zwei Kategorien ein: »Das könnte er sein« und »Das ist er auf keinen Fall«. Am Ende hatte ich mich auf zwei Männer eingeschossen. Beide schienen mich, unabhängig voneinander, zu beobachten.
    Der eine war ein jüngerer, italienisch oder südländisch wirkender Mann, der unbeweglich in meine Richtung stierte, die Augen trotz der Wolken hinter tiefschwarzen Brillengläsern verborgen. Er stand an der Eingangstür zur Cafeteria und setzte sich die gesamte Fahrt über nicht, obwohl reichlich Platz geboten war. Ich fühlte seinen Blick, aber er machte keine Anstalten, sich mir zu nähern.
    Der andere war ein Mann in meinem Alter. Er trug ein rosafarbenes Radlertrikot und entsprechende Hosen. Neben ihm lehnte ein Rennrad. Auf ihn war ich nur gekommen, weil ich mich bei seinem Anblick an meine eigene detektivische Aktion erinnerte – die Sache mit dem Fahrradkurier in Lewinskys Haus. Der Typ schien mich nie direkt anzuschauen. Und doch meinte ich, dass er mich beobachtete, wenn ich gerade mal wegsah.
    Nach circa zehn Minuten ebbte meine Nervosität ein wenig ab. Niemand kam auf mich zu, niemand gab mir ein geheimes Zeichen, das Handy blieb stumm. Vielleicht war alles nur ein großes Missverständnis gewesen.
    Kurz bevor das Schiff in den Lindauer Hafen einfuhr, sah ich aus den Augenwinkeln heraus, wie der Südländer telefonierte. Es war ein sehr kurzes Telefonat; ein Mann wie er hätte eigentlich laut gestikulierend in das sicher neueste Sony-Ericsson-Handy hineinbrüllen müssen.
    Ich wartete.
    Das Schiff legte an, die Brücke wurde herangeschoben, einige Leute gingen von Bord. Unter ihnen war auch der buntberockte Radler. Er schob sein mintgrünes Bianchi-Rad an Land, nicht ohne mich vorher seltsam intensivanzusehen. Lag eine stumme Botschaft in seinem Blick, eine Aufforderung? Sollte ich ihm folgen? Inzwischen war der Südländer verschwunden. Kurz bevor der Landungssteg von Bord gezogen wurde, klingelte mein Mobiltelefon.
    »Winther.«
    »Gehen Sie hier an Land. Ich werde in Kürze bei Ihnen sein.«
    Ich betrat den metallenen Steg, sehr zum Ärger der beiden Männer, die sich gerade anschickten, ihn an Land zu

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