Der Andere
Mädchen, unsere Retterin, unter dem Vordach abgestellt hatte, war der Wachmann so taktvoll gewesen, uns nur wenige Fragen zu stellen. Er setzte uns auf einer niedrigen Lederbank ab und ließ uns dort allein. Wir hatten das Mädchen im Park fast über den Haufen gerannt, als wir zwischen den Bäumen hervorpreschten und direkt in ihre Büchertasche rannten. Mit ihren Eulenaugen, ihrer ruhigen, sanften Stimme und den rissigen Fingern hatte sie uns schließlich beruhigt. Sie entlockte uns eine Adresse, bezahlte das Taxi und übergab uns dem Wachmann wie ein unerwünschtes Geschenk, bevor sie die Fifth Avenue überquerte und wieder im Park verschwand.
Schließlich stiegen Claire und James aus dem Fond eines schwarzen Wagens. Claire sah uns als Erste und erstarrte draußen vor der geöffneten Tür zur Eingangshalle, die Hände über dem Magen gekreuzt. Mindestens zwei Stunden waren vergangen, seit wir von ihrer Seite gewichen waren. James eilte an ihr vorbei und betrat das Gebäude mit abgehackten Schritten. Er beugte sich herunter, um Luke zu umarmen, und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann richtete er sich wieder auf, packte seinen Sohn am Arm und steuerte wortlos auf den Aufzug zu. Als sich die Türen öffneten und Claire sich noch immer nicht gerührt hatte, drehte er sich um: »Es wäre eine ganz wunderbare Idee, wenn du in diesen Aufzug steigen würdest, bevor ich wütend werde.«
Oben angekommen, wollte Claire Luke nicht mehr aus den Augen lassen. Sie tigerte in der Küche umher, während wir am Tisch saßen und James mit seinem langen Körper quer in der Türöffnung lehnte. Ich kauerte mich in meinen Sessel, in der Hoffnung, alle würden mich einfach vergessen.
»Claire«, begann James, »ich möchte unsere Vereinbarung wirklich nicht brechen. Du hast Zugeständnisse gemacht, und ich auch. Wir haben eine Abmachung getroffen. Aber du kannst nicht erwarten, dass ich über einen solchen Fehler einfach hinwegsehe.«
»Ich will in mein Zimmer«, sagte Luke.
»Du hast für heute genug gewollt«, schnappte Claire.
»Lass ihn.« James’ Augen lagen eingesunken in den tiefen Gräben dunkelroter Hautringe, aber hinter seiner Müdigkeit lugte Wachsamkeit hervor, das Gespür für eine Gelegenheit. Er lächelte Luke an, der jedoch zu seiner Mutter hinübersah.
»Du wirst mich in meiner eigenen Wohnung nicht unter Druck setzen«, warnte ihn Claire. »Du wohnst nicht mehr hier.«
»Warum steh ich wohl hier und höre dir zu, anstatt meinen Anwalt anzurufen. Erklär mir das!«
»Ich muss mich nicht verteidigen.« Claire zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du hast uns beide doch schon vor langer Zeit aufgegeben.«
»Die Art, wie du Dinge ins Gegenteil verkehrst, ist un…«
»Sei still!«
James hob die Hände. »Dann nenn mir einen Grund, warum ich anderer Meinung sein sollte.«
Das tat sie. Einen Monat später hatte Claire das Apartment in der Fifth Avenue an James verkauft und den größten Teil der Kunstgegenstände zur Versteigerung freigegeben. In jenen vier Wochen schlief sie nicht. Sie telefonierte die ganze Nacht hindurch, raunte mit eindringlicher Stimme hinter ihrer Schlafzimmertür. Drei Abende hintereinander kam sie nicht zum Essen, um sich schließlich am darauffolgenden Morgen einen ganzen Truthahn zu braten, der fünf Tage lang mit einem Tranchiermesser in der Brust auf der Küchenanrichte liegen blieb, als wäre es ein Tatort.
Das Haus auf Fire Island war schlicht und ließ sich schnell einrichten. Claire hatte sich im Verlag beurlauben lassen, allerdings nicht ohne einen riesigen Schrankkoffer voller Manuskripte und Korrekturfahnen mitzunehmen. Mit dem Erlös aus der Versteigerung hatte sie das Strandhaus gemietet, was sich als unproblematisch erwies, da es im Winter sowieso kaum eine Menschenseele nach Fire Island zog. Die Dörfer, die sich auf der Seeseite der Insel aneinanderreihten, waren von November bis April so gut wie ausgestorben, und in der Nacht fühlten wir uns wie Siedler an einer entlegenen, vereisten Küste hoch im Norden, irgendwo in einer menschenfeindlichen Gegend.
Am Neujahrstag verließen wir Manhattan. »Das passt«, befand Claire. Das Auto – es hatte ihrer Mutter gehört, ein rostübersäter kastanienbrauner Saab, der seit einem Jahrzehnt irgendwo in Queens in einer Garage vor sich hingegammelt hatte – parkte in der zweiten Reihe in der Fifth Avenue. Luke und ich warteten auf dem Bürgersteig vor dem Eingangsbereich und beobachteten, wie zwei Wachmänner in grünen
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