Der Andere
Augenblick. »Das ist ein schönes Spiel«, meinte er schließlich.
Er sagte, ich solle meine Augen schließen, während er sich versteckte. Ich gehorchte, warf einen letzten Blick auf den kleinen Körper, der sich wie ein Wurm in das Unterholz grub, bevor ich die Augen schloss. Ich fühlte mich abgekoppelt in der jäh eingetretenen Schwärze, frei schwebend in der Tiefe des Raumes. Nachdem ich bis sechzig gezählt hatte, öffnete ich die Augen. Ich verließ den Weg, um Luke zu folgen, begab mich in die Fänge von Büschen und blattlosen Bäumen, die sich zu allen Seiten streckten, ineinandergriffen und nur wenig Platz zwischen ihren Zweigen ließen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte, wieder allein zu sein. An das letzte Mal konnte ich mich nicht erinnern. Eine unbeschreibliche Angst überkam mich. Plötzlich war ich überzeugt, dass das Spiel eine furchtbare Idee, unsere Trennung ein schwerer Fehler gewesen war. Ich wollte Luke so rasch wie möglich finden, bewegte mich immer schneller durch die Bäume, die in prähistorischer Größe über mir aufragten. Meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, sein Versteck zu finden. Da mir meine Sehkraft nicht weiterhalf, schloss ich die Augen erneut und versuchte, Luke auf andere Weise ausfindig zu machen. Ich konzentrierte mich, bis ich in der Dunkelheit zu meiner Linken einen leichten Zug zu spüren glaubte. Der Zug wurde stärker, dann richtig kraftvoll, ein Magnet, dem ich mich nicht entziehen konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich öffnete die Augen, und das Gefühl blieb. Ich ging durch einen schmalen Spalt zwischen zwei schwarzen Kirschbäumen, und dann – »Buh!« – brach Luke hinter mir aus dem Gebüsch hervor. Gegen meinen Willen schnellte ich hoch. »Hab dich!«, grinste er erleichtert. Offensichtlich teilte er meine Furcht nicht, und ich täuschte ein Lächeln vor, um nicht als der Schwächere von uns beiden zu erscheinen.
Luke streckte mir die Zunge heraus, und plötzlich vernahm ich Stimmen, die durch die Bäume zu uns drangen. Auch Luke hörte sie. Wir sahen uns an, versuchten herauszufinden, woher sie kamen. Luke zeigte auf eine kleine Erhebung, über die wir nicht hinaussehen konnten. Wir hörten das Lachen eines Mannes und dann, etwas härter, eine Art Ermahnung oder Befehl. Wir warfen uns auf den Bauch und robbten zum Gipfel der Anhöhe. Wie verbranntes Papier raschelten die letzten Herbstblätter unter uns.
In einer Senke fernab von jedem Weg befanden sich ein Mann und eine Frau unter einem Baum. Sie war von ihm abgewandt, die Hände gespreizt auf dem Baumstamm, ihre Finger kratzten an der Rinde. Sie stand vorgebeugt, ihre Jeans waren heruntergezogen worden (oder vielleicht hatte sie es auch selbst getan), so dass sie sich wie Fesseln aus Jeansstoff um ihre Knöchel legten. Ihre Schenkel erschienen unglaublich weiß inmitten der dumpfen Grau- und Brauntöne. Ihr Kopf lag so sorgfältig zwischen ihren ausgestreckten Armen verborgen, dass es einen Augenblick so aussah, als sei er weg. Der Mann stand hinter ihr, eine Hand umfasste ihre Taille, die andere umschloss ihre Handgelenke und drückte sie gegen den Baum. Seine eigene Jeans war aufgeknöpft und stand offen, war aber nicht heruntergezogen. Der Kopf des Mannes war groß und wirkte schwer, er sank zwischen den Schultern ein wie ein Felsbrocken im Schlamm. Er war nicht jung, und als ich das Gesicht der Frau sah, erkannte ich, dass auch sie nicht jung war. Sie brachte einen schwachen Ton hervor, und der Mann löste seine Hand von ihrer Taille und legte sie grob über ihren Mund, quetschte ihre Nasenlöcher zu und drückte den Handballen auf ihre Lippen. Der Mann demonstrierte seine Macht über die Frau, aber die Frau zeigte ihm auch ihre Macht, indem sie sich unterwarf. Sie blickte auf und entdeckte uns, wie wir uns auf der Anhöhe versteckt hielten. Hinter der Hand, die es bedeckte, nahm ihr Gesicht einen Ausdruck an, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, und ich brauchte Jahre, um zu verstehen, was er bedeutete. Ein Teil davon war Stolz, aber auch pure körperliche Lust. Der größte Teil indes war durchtriebene Raffinesse. Der Mann war animalisch und derb; er nahm sich, was er bekommen konnte. Es war die Frau, die zuließ, dass dieser Moment sich ereignen konnte. Was wir dort sahen, war allein ihr Plan. Sie fixierte uns einen Moment lang mit den Augen, dann sprangen wir auf und rannten davon.
3 . Kapitel
E ine Stunde warteten wir im Eingangsbereich. Nachdem uns ein
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