Der Andere
den beiden Betten, aufdringlich seelenlos im Mondschein. Wenn ich es nicht mehr ertragen konnte, länger wachzuliegen, und aufgestanden war, um durch den Raum zu tigern, war ich erschüttert von der Unberührtheit meines leeren Bettes, dessen Laken stramm unter der Matratze steckten und am Kopfende mit militärischer Präzision zurückgeschlagen waren. Manchmal schlich ich mich aus dem Zimmer und durchstreifte das lichtlose Haus. Neben unserem Schlafzimmer befand sich das kleine Zimmer mit einer Sammlung VHS -Bänder, die wir uns nie angesehen hatten, und der Standuhr, die nie richtig ging. Wenn ich oben war, betrachtete ich die gerahmten Familienfotos der Hauseigentümer, sommersprossige Rotschöpfe aller Altersstufen und aus allen Zeitepochen. Sie lächelten mir von Beistelltischen und Bücherregalen entgegen: kleine Kinder in Rettungswesten, Jugendliche mit Tennisschlägern, ein Mann mittleren Alters stand auf einer Mole und hielt eine Angelrute in der Hand. Die älteren Fotos hatten diesen fahlen, sonnengebleichten Ton, der auf einfachere Zeiten schließen ließ. Alle sahen aus wie alle anderen in einem anderen Alter. Ich wünschte, Claire würde sie alle in irgendeiner Schublade verschwinden lassen. Ich wollte kein Dasein im Schatten der Lebensgeschichten anderer führen. Später im Winter schafften Luke und ich die Fotos in seinem Rucksack hinaus auf den Strand und begruben sie dort im Sand, als wären es reale tote Menschen und nicht nur deren Abbildungen.
Einen Monat nach unserer Ankunft auf der Insel spielten Luke und ich am Strand, als wir den Schulbus hörten, der über den Sand in unsere Richtung rumpelte. Auf der anderen Seite der Dünen beobachtete uns Claire von der Dachterrasse des Hauses aus. Seit Sonnenaufgang hatte ich Luke zugesehen, wie er seinen Spielzeug-Kipplaster über die Flutlinie schob, die Ladefläche mit Steinen, Seetang und Krebsschalen belud und die Fracht dann einer Reihe ähnlicher Abladestellen hinzufügte. Er stocherte im Strandgut herum, zog die verheißungsvollsten Objekte heraus und putzte sie an seiner Jeans ab, um sie nach Hause zu bringen und Claire zu zeigen. Der kleine Schulbus tauchte jetzt aus dem Nebel auf, zockelte über den Strand und steuerte eine Haltestelle fünfzehn Meter westlich von uns an. Ein kleiner Körper mit Rucksack trottete die Stufen vom Plankenweg zum Strand hinab und steuerte über den Sand schnurgerade auf den wartenden Bus zu. Die Tür schwang auf, das Kind kletterte hinein, und die Tür schwang wieder zu. Luke setzte seinen Kipplaster ab und sah dem Bus nach, der an uns vorbei, in Richtung Osten zum einzigen, winzigen Schulhaus auf der Insel fuhr. Die Kinder bildeten flatternde, schemenhafte Umrisse hinter den von Kondenswasser und Sand eingetrübten Fenstern. Hier die verschwommene Silhouette eines hellen Kleidungsstücks, dort eine von innen gegen die Scheibe gepresste Handfläche. Als Letztes wurde das Flackern der roten Rücklichter vom Nebel verschluckt.
»Meine Mutter sagt, dass ich erst im kommenden Herbst wieder in die Schule gehen werde.«
»Habe ich gehört.«
Er stand auf, Sandklumpen klebten an seiner Jeans. »Sie sagt, es ist besser für mich, wenn ich mit ihr hier draußen bin. Aber ich weiß nicht. Schule war doch gar nicht so schlecht.«
Ich hatte es satt, darüber nachzudenken. Also sagte ich nur: »Komm, wir spielen ein neues Spiel.« Der Gedanke daran, all diese fremden Kinder zu berühren oder gar einen Raum mit ihnen zu teilen, erfüllte mich mit Übelkeit. Die Keime auf ihren kleinen wurmigen Fingern, diese zähen Speichelfäden in ihren quakenden Mündern. Kinder waren widerwärtig.
Ich deutete auf ein Seetangnest und Treibholz ein paar Meter vor uns am Strand. »Wer als Letzter dort und wieder zurück ist, steckt seinen Kopf ins Meer.« Luke überhörte es, den Blick immer noch an die Stelle geheftet, wo sich der Bus soeben im Nebel aufgelöst hatte. Wortlos wandte er mir den Rücken zu und ging in Richtung Haus. Geduckt lag es im Dünengras, sein verwitterter grauer Anstrich hob sich farblich kaum vom Nebel ab, ein blasses Chamäleon auf Stelzen. Claire winkte uns von ihrem Hocker auf der Dachterrasse zu. Meerglas, milchig abgeschliffene grüne und blaue Scherben, beulten sich in Lukes Taschen. Wenn sie gut gelaunt wäre, würde sich Claire mit ihm zusammen über die Stücke hermachen, und die schönsten, mit Hingabe nach Farbe und Größe sortiert, würden einen angemessenen Platz in den Milchflaschen finden, die
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